Man sollte wieder einmal lesen, kein Fachbuch und keinen Schmöker, sondern hohe Literatur, und wenn es nur eine Kurzgeschichte ist wie Anton Tschechows „Ein Chamäleon“! Sie handelt von der Macht: Der Polizeiaufseher Gorelow kommt irgendwo auf dem Land in eine Situation, in der ein Mann von einem Hund in die Hand gebissen worden ist, der Mann will Schadenersatz, und er will Strafe für den Hund. Gorelow hält beides für gerechtfertigt und befiehlt, den Hund zu erschlagen. Aber vorsichtshalber fragt er die Herumstehenden, ob jemand wisse, wem der Hund gehöre. „Dem General Shigalow“, antwortet einer, Gorelow schwenkt um, nimmt Partei für den Hund (bzw. den Herrn) und gegen den Gebissenen.
Ein Zweiter in der Menge dementiert: Der General habe doch ganz andere Hunde. Gorelow schwenkt wieder um, und so geht die Geschichte dahin, man wird hineingezogen in die Person des Polizeiaufsehers – ob nun voll Verständnis oder Abscheu –, man fühlt und denkt mit ihm mit.
Exakt das sind die beiden Bestandteile der „theory of mind“ (ToM). Die bezeichnet das für das soziale Leben grundlegende Vermögen, sich in andere hineinzuversetzen und das eigene Verhalten daran zu orientieren. Das ist nicht einfach – man muss zunächst lernen, dass andere erstens andere sind und zweitens doch auch so, wie man selbst ist. Es braucht Einfühlungsvermögen, es braucht Mitdenken, deshalb wurde die Fähigkeit lange nur (erwachsenen) Menschen zugesprochen. Aber andere haben sie auch – Schimpansen und Rabenvögel –, und unter Menschen ist sie verschieden entwickelt. Deshalb haben David Comer Kidd und Emanuele Castano (New York) getestet, ob man die ToM stärken kann, etwa durch Lesen.
Tschechow macht sozial, Pilcher nicht
Dazu haben sie Probanden ins Labor geladen und sie etwas lesen lassen, entweder ein Sachbuch (etwa „Kolumbus' Erbe“ vom Wissenschaftsjournalisten Charles Mann) oder eher flache Unterhaltung („popular fiction“, dazu wurde gezählt, was gerade bei Amazon die höchsten Verkaufszahlen hatte, Rosamunde Pilcher etwa) – oder gehobene Literatur („literary fiction“).
In dieser Gruppe waren zeitgenössische Literaturpreisgewinner, in ihr war auch Tschechow. Vor und nach der Lektüre wurde die ToM getestet, in ihren beiden Komponenten, zunächst der kognitiven: Es gab einen Film zu sehen, in dem eine Frau eine Violine in eine blaue Verpackung steckt und den Raum verlässt. Dann kommt ein Mann in den Raum und steckt die Violine entweder in eine rote Verpackung, oder er vertauscht die blaue und die rote. Die Frau kehrt zurück, wohin greift sie nach der Violine? Dazu muss man sich in ihr Denken versetzen. Das gelang allen gleich gut, egal, was sie gelesen hatten oder ob sie überhaupt etwas gelesen hatten.
Aber dann wurde die affektive Komponente der ToM erhoben. Dazu wurden Fotos von Augen gezeigt, von denen die Stimmung ihrer Träger abgelesen werden sollte. Das gelang – mit großem Abstand – denen am besten, die sich zuvor in gehobene Literatur vertieft hatten. Die wirkte bei allen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Bildung. Von wem die Werke stammten und wovon sie handelten, machte auch keinen Unterschied, der zeigte sich nur in einem Detail: Beschriebene negative Emotionen trieben die ToM in die höchsten Höhen (Science, 3. 10.).
„Durch ihren verfremdenden Stil unterscheidet sich Literatur von Thrillern oder Liebesgeschichten“, interpretieren die Forscher: „Wie das wirkliche Leben ist die Welt der Literatur voll mit Individuen, deren Innenleben selten einfach erfasst werden kann, sondern erkundet werden will.“ Wie lang der Effekt anhält, wurde nicht getestet.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2013)