Psychologie Psyche leidet nicht häufiger

Stuttgart - Schon seit Jahren geistert durch die Medien die Behauptung, psychische Erkrankungen stiegen rasant an. Gerne verantwortlich macht man dafür den wachsenden Druck und den Stress der modernen Arbeitswelt. Oft beruhen solche Aussagen auf Angaben der Krankenkassen. Erst kürzlich berichtete die Techniker Krankenkasse von einer erheblichen Zunahme der Fehltage auf Grund psychischer Erkrankungen. Jeder sechste Krankentag gehe mittlerweile auf das Konto seelischer Probleme. Doch haben psychische Erkrankungen wirklich so rasant zugenommen, wie es Medien und die Berichte der Krankenkassen suggerieren?

Eines scheint zunächst einmal sicher zu sein. Psychische Störungen sind sehr weit verbreitet und auch viel weiter verbreitet als man früher angenommen hat. Dieses Bild ergibt sich aus repräsentativen epidemiologischen Studien der letzten zwanzig Jahren zur Prävalenz von psychischen Störungen in der Bevölkerung. Etwa jeder dritte Bürger der Europäischen Union leidet jedes Jahr an mindestens einer psychischen Erkrankung. Zu diesem Ergebnis kamen im Jahr 2011 Forscher um den Psychologen Frank Jacobi von der Psychologischen Hochschule Berlin in einer groß angelegten Studie in der Fachzeitschrift European Neuropsychopharmacology. Zu den häufigsten Erkrankungen zählen Ängste und Depressionen. Das Risiko irgendwann im Laufe seines Lebens von einer psychischen Störung betroffen zu sein, liegt schätzungsweise bei rund 50 Prozent.


Frühere Studien und amtliche Statistiken hatten deutlich niedrigere Zahlen errechnet. Das muss allerdings nicht bedeuten, dass sich psychische Störungen ausgebreitet haben. Denn frühere Studien konzentrierten sich nur auf eine Reihe von psychischen Erkrankungen wie etwa schwere Psychosen und Depressionen. Heute untersucht man ein erheblich differenzierteres und breiteres Spektrum von psychischen Störungen. Außerdem bezog man früher häufig nur die Fälle in die Statistik mit ein, die auch eine entsprechende Behandlung erhalten hatten. Nun gelangt aber nur ein Bruchteil der Betroffenen auch in Behandlung. Die Zahl der Therapien spiegelt damit nicht die tatsächliche Verbreitung von psychischen Störungen wider. Deshalb greift man heute in entsprechenden Studien auf repräsentative Stichproben zurück.

Um zu untersuchen, ob sich die Verbreitung von psychischen Erkrankungen verändert hat, gibt es verschiedene Wege. Der solideste ist, die gleiche Stichprobe über einen längeren Zeitraum hinweg wiederholt mit den gleichen Methoden zu untersuchen. „Wenn man sich diese Studien anschaut, die beispielsweise über einen Zehnjahreszeitraum hinweg psychische Störungen in der Bevölkerung international erhoben haben, findet man in der Regel keine Zunahme“, sagt Frank Jacobi.

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