Psychologie: Mit den Augen hört man besser

Psychologie Mit den Augen hört man besser

Musikgenuss ist am größten, wenn man dem Spiel der Künstler auch zusehen kann

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17.05.14, 02:05

Psychologie

Musikgenuss ist am größten, wenn man dem Spiel der Künstler auch zusehen kann

Von
Magnus Heier

"Oboe, ich brauche die Oboe." Im Übertragungsraum der Berliner Philharmoniker herrscht Aufregung. Der Oboist spielt ein Solo, aber man sieht ihn nicht auf dem Bildschirm. Keine Kamera ist auf ihn gerichtet. Es ist aber nur die Generalprobe – zum Konzert muss der Regisseur dafür sorgen, dass die Solisten im entscheidenden Moment zu sehen sind.

Der Zuschauer im Konzertsaal hört Töne, Harmonien, aber er sieht die Musiker meist nur aus der Ferne. Der Zuschauer vor dem Fernseher oder Laptop kann die Mimik und die Schweißperlen der Musiker sehen. Kann man Musik, der man beim Entstehen zusehen kann, auch besser hören? Wissenschaftler des University College London haben Musikkennern und Laien die Mitschnitte von Wettbewerben gezeigt. Sie legten ihnen reine Tonaufnahmen der Finalisten vor, außerdem Videos mit Ton und solche ohne Ton.

Sie baten um ein Urteil: Welcher Musiker hat den Wettbewerb gewonnen? Die reinen Tonaufnahmen halfen weder Laien, noch Musikkennern weiter. Ihre Auswahl war kaum besser als eine Zufallsverteilung. Bei den Videoaufnahmen mit Ton fielen die Urteile treffender aus. Aber am sichersten erkannten Laien wie Experten, welche Musiker den Wettbewerb gewonnen hatten, wenn sie diese gar nicht spielen hörten – sondern nur sahen. Das Auge hört offenbar entscheidend mit. Die Besucher im Konzertsaal sehen leider meist zu wenig. Deshalb übertragen die Berliner Philharmoniker in dieser Saison 40 ihrer Konzerte live im Internet. Zum Ausprobieren kann man einige Streams kostenlos über die Webseite oder über Apps aufrufen. Die meisten Konzerte sind indes kostenpflichtig. Bis zu 42 Mikrofone und sieben Kameras sind auf die Musiker gerichtet.

Daniel Finkernagel ist einer der Regisseure der "Digitalen Konzerthalle". Er muss im Aufnahmeraum entscheiden, ob und wie oft er den Solisten alleine zeigt, wie oft den Dirigenten oder das ganze Orchester. "Ich entscheide mich oft nicht für die Haupt-, sondern für die Nebenstimme. Indem ich sie zeige, mache ich sie besser hörbar."

Beeinflusst das wirklich das Hörerlebnis? Finkernagel hat Zuschauern die Anfangstakte von Mozarts großer G-Moll-Sinfonie in Videoaufnahmen vorgespielt. Er zeigte ihnen drei Interpretationen von drei Dirigenten. Die Mehrheit habe sich von den Bildern täuschen lassen und die Interpretation des optisch temperamentvollsten Dirigenten auch für die musikalisch frischeste gehalten. "Aber die frischeste Interpretation lieferte ein Dirigent, der einen steifen Eindruck machte."

Tausende Kilometer weg, aber live

Der Solocellist der Berliner Philharmoniker, Olaf Maninger, sieht in den bewegten Bildern eine Chance, "unsere Musik klarer hörbar und damit auch verständlicher zu machen". Das Bild zum Ton sei eine Art geleiteter Wahrnehmung. "Es leitet mich durch Haupt- und Nebenstimmen. Die Musik wird verständlicher", sagt Maninger.

Die Philharmoniker haben durch die Internetübertragungen neue Zuschauer gewonnen, die Hunderte Kilometer entfernt die Auftritte verfolgen. "Immerhin ein Drittel unserer Internetzuschauer sehen unsere Konzerte live", sagt Tobias Möller von der "Digitalen Konzerthalle". Vermutlich wären es noch mehr, wenn es keine Zeitverschiebung gäbe. Drei Viertel der Kunden rufen die Konzerte aus dem Ausland ab. Der Reiz der Live-Übertragung liege in der Ausweglosigkeit der Situation, sagt Cellist Maninger. Ganz ähnlich wie beim Fußball. "Wenn jemand seinen Einsatz verpatzt, wenn der Dirigent stolpert – das ist alles nicht korrigierbar, und so will man es sehen." Die fast intime Nähe der Kamera habe zudem einen hohen Bindungseffekt.

Als besonders geeignet für die Live-Übertragungen von klassischer Musik haben sich Kinosäle erwiesen. Hier ist die Akustik optimal und das Bild riesig. Die technischen Möglichkeiten können ausgeschöpft werden. Auch Opern kommen live auf die Leinwand. Begleitet von Kameras wird die Oper zum musikalischen Spielfilm in Echtzeit. Denn auch hier besteht der Reiz für die Zuschauer darin, live dabei zu sein, wenn etwa in der Metropolitan Opera in New York die Sopranistin Anna Netrebko auf der Bühne steht.

Im Kino zeigen sich allerdings die Grenzen der Visualisierung: Anna Netrebko ist keine Schauspielerin. Wenn die Kamera zum Gesicht der Sopranistin zoomt, sieht man, wie sich ihre Mimik unter der Anstrengung einer Arie verzerrt. In Opernhäusern können die Besucher den Sängern nicht so genau ins Gesicht sehen. Jedenfalls wird der Musikgenuss, ob Oper oder Konzert, im Kinosaal zu einem Gemeinschaftserlebnis. Man sitzt, hört und applaudiert zusammen. Bei einer Übertragung der Berliner Philharmoniker wurden in einem Kino in Dortmund sogar Zugabe-Rufe hörbar – 500 Kilometer entfernt.

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