Psychologie Mensch, schäm dich! – FAZ

© La Biennale di Venezia
Scham kann ein schreckliches Gefühl sein: Szene aus dem Film „Shame“.

Brandon ist erfolgreich im Leben. Er wohnt in einer schicken Wohnung in New York, hat einen tollen Job und zieht abends mit seinem Chef um die Häuser. Die Frauen in den Clubs stehen auf ihn, ohne dass er viel dafür tut. Das kommt ihm entgegen. Er schläft dann manchmal auf offener Straße mit ihnen. Oder in seiner Wohnung, direkt hinter der Glasfassade. Brandon ist schamlos, und dennoch heißt der Film, dessen Protagonist er ist, „Shame“. Es ist Scham, die ihn antreibt.

Scham kann ein schreckliches Gefühl sein, vielleicht das schlimmste überhaupt. Auch das Leben jenseits der Leinwand zeigt, wo es Menschen hinführen kann. Aus Scham, behaupten Studien, setzen Hunderttausende Rentner ihren Anspruch auf Grundsicherung nicht durch, obwohl sie dazu berechtigt wären. Im vergangenen Winter überfiel ein Mann in der Nähe von Stuttgart eine Bank. Unlängst erklärte er vor Gericht, er habe zuvor Geld verspielt, sich deshalb vor seiner Frau geschämt. Im Dezember nahm die Krankenschwester von Herzogin Kate ein Telefonat entgegen. Später stellte sich heraus, dass sich ein Radiosender einen Streich erlaubt hatte, und sie beging Selbstmord.

Zu Schamgefühlen neigt nicht jeder gleichermaßen. Manche reagieren nach unangenehmen Ereignissen mit Schuldgefühlen, andere spielen die Bedeutung der Situation oder die eigene Verantwortung herunter. Die amerikanische Psychologin June Tangney hat mit Fragebögen ermittelt, welches Gefühl bei Highschool-Schülern überwog. Es zeigte sich, dass Schuldgefühle konstruktiv wirkten: Diejenigen mit Schuldneigung studierten später mit höherer Wahrscheinlichkeit und gingen verantwortungsvoll mit sich selbst und ihren Mitmenschen um. Die Jugendlichen hingegen, die zu Schamgefühlen neigten, tendierten zu sozialem Rückzug und einem ausgeprägten Risikoverhalten. Bei ihnen war die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie von der Schule flogen, Drogen nahmen oder kriminell wurden. Bei Scham handelt es sich offenbar um ein besonders destruktives Gefühl.

„Über Scham zu sprechen ist schließlich beschämend“

Psychotherapeuten wissen um die Qualen. Allerdings kommt es nicht oft vor, dass Patienten zu ihnen sagen: „Ich habe ein Schamproblem.“ Scham ist ja keine Krankheit, sondern Teil unserer aller emotionalen Ausstattung. Stattdessen beklagen Menschen beispielsweise, dass sie müde sind, nicht mehr gerne ausgehen oder, im Extremfall, den Anblick ihres Spiegelbildes nicht mehr ertragen. „Betroffene Patienten benennen meistens nur die Symptome an der Oberfläche“, sagt der Psychoanalytiker Michael Titze. „Über Scham zu sprechen ist schließlich beschämend.“ Als er vor mehr als dreißig Jahren als Psychotherapeut anfing, plagten Schamgefühle jeden fünften seiner Patienten. Heute, schätzt er, seien sie für mindestens jeden Dritten ein großes Thema. Die Gedanken der Patienten kreisten dann unentwegt um die eigene Person und die eigenen Fehler, sie schämten sich ihrer selbst.

“Heute kommen viel mehr Menschen mit narzisstischen Störungen in meine Praxis als früher. In ihrer Selbstwahrnehmung schwanken sie zwischen Größenwahn und Minderwertigkeit, sie sind überzeugt, mit ihrer ganzen Person stimme etwas nicht“, sagt Titze. Zu Beginn seines Berufslebens waren die Probleme seiner Patienten weniger diffus, und die Ursachen ließen sich klarer benennen: Sie litten beispielsweise, weil sie kurz vor der Hochzeit die Verlobung gelöst oder weil sie ein Kind abgetrieben hatten. „In solchen Fällen ist leicht nachzuvollziehen, was den Patienten durch den Kopf geht: Sie fühlen sich schuldig, weil sie etwas Bestimmtes getan oder nicht getan haben.“ Bei solchen Schuldgefühlen sprechen Psychologen von einer Diskrepanz zwischen Ich und Über-Ich, es handelt sich also um einen Gewissenskonflikt.

Anders bei der Scham: Es driften dann Ich und Ich-Ideal auseinander, wie es im Fachjargon heißt, die Kluft entsteht zwischen der jeweiligen Person und ihren Ansprüchen an sich selbst. Schuld und Scham müssen nicht weit auseinanderliegen, aber während sich Schuld auf eine Handlung bezieht, richtet sich die Scham auf die eigene Person. So fühlt man sich schuldig gegenüber einem Passanten, dem man das Portemonnaie gestohlen hat, gleichzeitig schämt man sich vor sich selbst dafür.

„Problematisch wird es, wenn man plötzlich scheitert“

Aber Scham kann auch auftreten, ohne dass es dafür einen greifbaren Anlass gibt. Jemand fühlt sich minderwertig. Wenn Titzes Patienten die Ursache dafür nicht kennen, ist es umso schwieriger, das Problem in den Griff zu kriegen: „Ziel der Therapie ist hier, dem Patienten zu vermitteln, dass es völlig okay ist, durchschnittlich zu sein, dass er liebenswert ist, auch wenn er keine besondere Leistung vollbringt.“ Die Ursachen, warum immer mehr Menschen wegen sich selbst verzweifeln, liegen für den Analytiker auf der Hand: „Gesellschaftliche Werte wie zum Beispiel Solidarität sind allgemein relativiert worden. Heute zählt vor allem eines: der persönliche Erfolg.“

Strategien, mit denen sich Scham abwehren lässt, gibt es viele, und häufig finden sie unbewusst Anwendung: Manche Leute mit schlechtem Selbstwertgefühl werden arrogant und werten ihre Mitmenschen ab, manche legen wie Brandon aus dem Film eine demonstrative Schamlosigkeit an den Tag. Andere treten bescheiden auf und beugen so einer Beschämung vor. Viele werden perfektionistisch und kompensieren die gefühlte Minderwertigkeit mit privaten oder beruflichen Bestleistungen.

Problematisch wird es meist erst, wenn man plötzlich scheitert: „Wenn der Workaholic seine Stelle verliert oder der Don Juan in die Jahre kommt und das Interesse der Frauen nachlässt, verliert ein schamgebundener Mensch vor sich selbst das Gesicht.“ Aber nicht immer muss es erst zu einer Niederlage kommen. Manchmal reicht der Erfolgsdruck, um Burnout zu bekommen, und manchmal genügt die Angst vor dem Scheitern, damit einer keine öffentlichen Räume mehr betritt oder früher in Rente geht. „Menschen, die sich für sich selbst schämen, fühlen sich überall fehl am Platz“, sagt die Psychotherapeutin Karen Kocherscheidt. Pathologisch werde es, wenn Betroffene anfingen, bestimmte Situationen zu meiden, nicht mehr zu arbeiten, nicht mehr unter Leute zu gehen.

Hinter einer Schamneigung stehen immer Selbstwertprobleme, und bei einer Vielzahl von Störungen spielen sie eine Rolle: bei Abhängigkeiten aller Art, bei Depressionen und Borderline-Erkrankungen, bei Bulimie und sozialer Phobie. Kocherscheidt hat empirisch untersucht, dass es eher Scham- als Schuldgefühle sind, die mit seelischen Krankheiten einhergehen. „Menschen, die sich schnell schämen, neigen zu Depressionen und anderen psychischen Störungen“, resümiert die Therapeutin.

Annette Kämmerer, Professorin für Psychologie an der Universität Heidelberg, hat einen Fragebogen entworfen, den sie von mehr als 300 psychisch Kranken und ebenso vielen Gesunden ausfüllen ließ. Diese sollten bewerten, wie beschämend bestimmte Alltagssituationen für sie sind. Es zeigte sich: Psychisch Kranke fanden mehr Situationen beschämend, und ihr Schamgefühl war intensiver. „Das Schamempfinden ist bei Depressiven am stärksten ausgeprägt, gefolgt von Menschen mit Phobien wie Platzangst und Panikstörungen“, sagt Kämmerer.

Das Schamempfinden von Gesunden zeigte sich weniger in sozialen Situationen als vielmehr im Zusammenhang mit körperlicher Blöße. Sie fand zudem heraus, dass sich Frauen stärker schämen als Männer und dass die Intensität des Schamempfindens mit dem Alter nachlässt: Zwischen zwanzig und vierzig sind Schamgefühle am stärksten ausgeprägt. In diesem Alter träten auch die meisten seelischen Störungen auf. Welche Symptome schamgebundene Menschen entwickeln, kann die Wissenschaft nicht erklären: „Es ist kaum erforscht, wieso jemand mit schlechtem Selbstwertgefühl Depressionen bekommt und ein anderer zum Alkohol greift“, sagt Kämmerer.

Doch Scham kann auch positiv wirken - in Gruppen. Das zeigen Experimente von britischen Wissenschaftlern. Sie spielten Studenten einen Film vor, in dem ein Mann im Supermarkt versehentlich einen Berg Toilettenpapier umstößt. In manchen Versionen reagiert er peinlich berührt auf sein Missgeschick, in anderen nicht. Die Studenten reagierten dann mit Wohlwollen, wenn er seine Verlegenheit zeigte. Und so hat eine leichte Schamhaftigkeit doch auch etwas Gutes.

Quelle: F.A.S.
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Psychologie: Mensch, schäm dich!

Psychologie

Mensch, schäm dich!


Von Julia Lauer

Sie ist nicht nur unangenehm und schwer ertragbar - Scham beeinflusst auch das Handeln und spielt bei psychischen Erkrankungen eine Rolle.

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