Psychologie: Lebe wohl!

Weggehen bedeutet zurücklassen: Menschen, Dinge, Gefühle, Ämter. Gibt es ein Talent zum Abschied? von Inka Schmeling


Abschied Matrose

Ein britischer Marinesoldat verabschiedet sich vor dem Auslaufen seines Schiffs aus dem schottischen Rosyth am 29. August 2001.  |  ©David Cheskin/dpa

Einem psychischen Erdbeben komme es gleich, sich von wichtigen Zielen, Menschen oder Orten trennen zu müssen, sagte einmal der amerikanische Evolutionspsychologe Eric Klinger. Tatsächlich ist der Mensch schlecht gerüstet für Abschiede. Wir sind Klammeraffen, von Beginn an. Der Umklammerungsreflex half Babys vermutlich vor Urzeiten, sich bei Gefahr fest in das Fell ihrer Mütter zu krallen. Emotional sind wir ähnlich gepolt; unser Gehirn sucht und festigt Bindungen zu unseren Mitmenschen. Auf Trennungen reagiert es ebenso intensiv wie auf körperliche Schmerzen.

Doch es gibt Menschen, die sich leichter als andere damit tun, etwas zurückzulassen. Ein Talent zum Abschied liegt ihnen bereits in den Genen. Psychologen gehen davon aus, dass es für jeden von uns ein optimales Erregungsniveau gibt, das zu etwa 70 Prozent die Gene bestimmen. Nur jeder Fünfte hält sein Erregungsniveau gerne hoch, indem er häufig neue Reize sucht: Diese Sensationssuchenden lassen sich von Neugierde und Aufbruchslust zu immer neuen Orten und Menschen treiben, sie suchen das Abenteuer in riskanten Sportarten und sind schnell gelangweilt.

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Die Mehrheit jedoch, etwa 80 Prozent der Menschen, hält die Zahl der neuen Reize gering und fühlt sich in der Routine wohler als bei Abschied und Neuanfang. Denn nicht nur plötzliche, ungewollte Veränderungen wie eine Scheidung oder eine verlorene Bundestagswahl fordern das Gehirn; selbst erwartete Veränderungen wie ein Auslandsjahr, Jobwechsel oder Umzug kosten Kraft. Um neue Eindrücke zu verarbeiten, verbraucht das Gehirn enorme Mengen an Zucker und Sauerstoff. Schnell versucht es, den Energieverbrauch zu drosseln und uns zu Routinehandlungen zu bewegen – indem es uns immer dann mit Endorphinen belohnt, körpereigenen Wohlfühldrogen.

Loslassen, das müssen die meisten erst lernen. Und wir lernen es unser ganzes Leben lang. Früher ging die Bindungsforschung von der einfachen Gleichung aus: Je sicherer sich ein Baby bei seinen Eltern fühlt, desto leichter werden ihm als Erwachsenen nicht nur Bindungen, sondern auch deren Auflösungen fallen. Wer sich also sicher fühlt, der kann sich bei allem Abschiedsschmerz dennoch lösen, wenn es an der Zeit ist. Moderne Bindungsforscher wie der Persönlichkeitspsychologe Jens Asendorpf von der Berliner Humboldt-Universität erweitern diese Gleichung heute aber: "Unser Bindungsstil verändert sich nicht nur ein Leben lang, er unterscheidet sich auch in den einzelnen Lebensbereichen. Er wird von unseren Erfahrungen und unserem Selbstwertgefühl in diesen spezifischen Bereichen geprägt."

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In der Arbeitswelt, im Freundeskreis, in der Familie oder Partnerschaft: Wer in einem Bereich eine sehr schmerzhafte Zurückweisung erfahren habe, tue sich dort oft schwer mit Abschieden. Die "Vermeider" binden sich erst gar nicht wieder oder geben bald auf, die "Ängstlich-Ambivalenten" klammern, harren zu lange in verfahrenen Situationen aus. Ein Teufelskreis: Wer bereits viel Zeit, Energie, Liebe oder Geld investiert hat, zögert den Abschied oft hinaus – und zahlt am Ende einen noch höheren Preis. "Das hartnäckige Festhalten an blockierten Zielen und unergiebigen Projekten kann zu erheblichen Fehlentwicklungen führen", warnt der Psychologe Jochen Brandtstädter von der Universität Trier.

So erschütternd die psychischen Erdbeben des Abschieds sein können, der Evolutionspsychologe Klinger weist darauf hin, dass sie oft einen großen Schatz zutage fördern, den wir erkennen, "wenn sich die dabei aufgewirbelte Staubwolke wieder gelegt hat".

Die Quellenangaben zum ZEIT-Wissen-Artikel finden Sie hier.

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