Psychologie: Kinder lernen, Gedanken zu lesen

Stuttgart - Kleinkinder fahren in ihren ersten Lebensjahren gut damit, ihren Eltern zu vertrauen. Wie heißt das? Warum geht das nicht? Ist das gefährlich? Das wissen die Erwachsenen alles besser. Immer wieder gucken Kleinkinder zu Mutter oder Vater, um sich zu vergewissern: Es ist alles in Ordnung. Natürlich halten sie sich nicht an jede Empfehlung und ignorieren manchen Rat, aber in diesen Fällen dreht sich die Diskussion nicht um die Funktionsweise des Spielzeugs, sondern um die Frage, wer den stärkeren Willen hat und sich durchsetzt.

Kleinkinder kommen nicht auf die Idee, dass Erwachsene schlecht informiert sein könnten. Man sieht das, wenn man mit ihnen Verstecken spielt: Das Zählen und Piep-Rufen ist für sie ein lustiges Ritual, aber sie scheinen noch nicht zu verstehen, dass man sich wirklich vor anderen verstecken kann. Und wenn ein Kind aus einem anderen Zimmer weinend zu seinen Eltern läuft, um getröstet zu werden, erklärt es oft nicht, was geschehen ist. Die Erwachsenen werden es schon wissen – wie sonst auch immer. Kinder versichern zwar manchmal mit vollem Mund, dass sie nichts von der Schokolade genommen hätten. Aber sie erwarten nicht, dass ihnen das irgendjemand glaubt. Sie wissen womöglich nicht einmal, was es heißt, etwas zu glauben.

So haben sich Psychologen in den 80er und 90er Jahren das Innenleben von Kleinkindern vorgestellt. Erst im Alter von etwa vier Jahren, so die damalige Theorie, verstehen Kinder, dass sich auch Erwachsene irren können. Erst dann berücksichtigen sie zum Beispiel, dass Menschen nicht wissen, was geschehen ist, solange sie nicht informiert werden. Und erst dann können sie überhaupt begreifen, dass man Menschen auch falsch informieren – sprich: anlügen – kann. Ein gewaltiger Fortschritt im kindlichen Denken – und ein wichtiger obendrein, denn das Verstehen der Gedanken anderer Menschen ist eine Grundlage für das zwischenmenschliche Miteinander.

Die Kinder wissen etwas, das die Puppe nicht weiß

Im psychologischen Labor sahen die Kinder zum Beispiel die Puppe Maxi, die ihre Tafel Schokolade holen wollte, die sie vor dem Spielen in einer Schublade deponiert hatte. Die Puppenmutter hatte die Schokolade aber in der Zwischenzeit in den Schrank getan. Getestet wurde, ob die jungen Probanden korrekt voraussagen können, dass Maxi dennoch zuerst in der Schublade nach der Schokolade suchen wird, weil die Puppe nicht weiß, dass die Schokolade inzwischen woanders ist. Diesen Test bestanden Kinder meist erst mit vier Jahren; die jüngeren Kinder sagten durchweg, dass Maxi im Schrank nach der Schokolade suchen werde.

Experimente dieser Art sind eine Form psychologischer Grundlagenforschung, denn die Wissenschaftler interessieren sich nur für die geistige Entwicklung der Kinder. Sie wollen verstehen, wie sich ein gegenseitiges Verständnis entwickelt, ohne dass man in die Köpfe anderer hineinschauen könnte, und sie erforschen diese Fähigkeit des Gedankenlesens anhand scheinbarer Details wie der Suche nach der Schokolade. Mit praktischen Empfehlungen für Eltern und Erzieher halten sich die Psychologen auffällig zurück.

Das Bild, das sich Psychologen von der kindlichen Entwicklung machen, hat sich in den vergangenen Jahren aber gewandelt. Man unterschätze damit die Fähigkeiten der Kinder, hieß es um die Jahrtausendwende. Viele dreijährige Kinder, die im Test eine falsche Antwort geben, gucken doch in die richtige Richtung: auf die Schublade, in der die Schokolade vorher war. Ist das nicht ein Hinweis darauf, dass sie intuitiv durchaus die richtige Antwort wissen, bloß nicht in der Lage sind, sie auch dem Versuchsleiter zu sagen?

Intuitives Verständnis anderer Menschen reicht nicht weit

In vereinfachten Formen des Versuchs schneiden sogar Kinder gut ab, die keine 18 Monate alt sind. In einem dieser Experimente sahen die Kinder einen Schauspieler, der immer wieder einen Ball in eine gelbe Kiste legte und ihn wieder herausnahm. Dann wurde hinter seinem Rücken der Ball in die grüne Kiste transferiert. Wenn er anschließend in die grüne Kiste griff, schauten die Kinder einige Sekunden länger hin als sonst – ein Zeichen dafür, dass sie überrascht waren, weil sie erwartet hatten, dass er wieder in die gelbe Kiste greift. Dieses Staunen zeigten sie hingegen nicht, wenn der Schauspieler mitbekommen hatte, dass der Ball nun in der grünen Kiste liegt. Mit altersgerechten Versuchen, die kein ausdrückliches Beantworten von Fragen erfordern, so die Argumentation, könne man beachtliche Fähigkeiten von Kleinkindern nachweisen. Das Maxi-Experiment sei für Kinder unter vier Jahren einfach zu schwer zu verstehen gewesen.

Doch auch diese Position gerät nun ins Wanken. Im Wissenschaftsmagazin „Science“ plädieren die Psychologen Cecilia Heyes von der University of Oxford und Chris Frith vom University College London dafür, das Maxi- und das Ball-Experiment nicht gleichzusetzen. Es gebe vielmehr zwei Fähigkeiten: das intuitive Erahnen, was ein Mensch als nächstes tun wird, und das explizite Räsonieren über dessen Gedanken und Gefühle. Für das Ball-Experiment genüge die eine Fähigkeit, für das Maxi-Experiment brauche man die andere. Heyes und Frith führen kein neues Experiment für ihre These an, sondern tragen Ergebnisse ihrer Kollegen zusammen.

Das Hauptargument von Heyes und Frith ist eine Studie mit Erwachsenen, die möglichst schnell sagen sollten, wie viele Punkte an der Wand eines Zimmers kleben. Wenn die Psychologen eine menschliche Figur in das Bild des Zimmers setzten, verzögerten sich die Antworten um einige Millisekunden – und zwar in den Fällen, in denen die Figur nicht alle Punkte im Blick hatte. Offenbar achtet man unwillkürlich darauf, was andere sehen. Wenn das mit der eigenen Wahrnehmung nicht übereinstimmt, weil man einen Punkt hinter der Figur entdeckt, muss man innehalten, um sich seiner Wahrnehmung zu vergewissern.

Gedankenlesen ist eine kulturelle, keine individuelle Leistung

Ein ähnlicher automatischer Mechanismus könnte bei den anderthalbjährigen Kindern das Staunen auslösen, wenn der Schauspieler in die grüne Kiste greift, obwohl er den Ball in der gelben Kiste vermuten müsste. Die Kinder begreifen intuitiv, dass der Schauspieler nicht im Blick hat, dass der Ball nun in der grünen Kiste liegt, und erwarten daher, dass er erneut in die gelbe Kiste greift. Doch dieses Verständnis, so Heyes und Frith, reicht nicht weit. „Das explizite Gedankenlesen“, schreiben sie, „also die Fähigkeit, über geistige Zustände nachzudenken und Gedanken über geistige Zustände auszudrücken, ähnelt dem Lesen gedruckter Sprache: Es entwickelt sich langsam und ist kognitiv aufwendig.“ Die automatischen Mechanismen sind womöglich eine Grundlage für das Nachdenken über das Innenleben von Menschen, aber dieses Nachdenken ist Heyes und Frith zufolge eine eigenständige Fähigkeit, die über Jahre erlernt wird.

Das Hauptargument für diese These ist die Untersuchung zu einer Gebärdensprache, die in den 1970er Jahren in Nicaragua entwickelt wurde. Die Stummen, die als erste mit dieser Sprache aufwuchsen, kamen mit dem Maxi-Experiment schlechter zurecht als jüngere Menschen, denen eine verbesserte Version der Gebärdensprache beigebracht wurde, in der es mehr psychologische Begriffe gab. Wer Begriffe wie „Wissen“ und „Wahrnehmung“ nicht beigebracht bekommt, wird sie aller Voraussicht nach nicht für sich erfinden oder in seinem eigenen Seelenleben entdecken, folgern Heyes und Frith. Würde eine Gruppe Kinder auf einer einsamen Insel stranden wie im Roman „Herr der Fliegen“, nur dass die Kinder erst ein oder zwei Jahre alt wären, würden sie nicht die psychologischen Fähigkeiten entwickeln, die Kinder in der modernen Welt erlernen.

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