Psychologie – Hochsensibilität ist eine Chance

Berlin –  

Viele Menschen spüren Reize aus der Umwelt oder dem sozialen Bereich sehr stark. Oft steckt dahinter eine besonders ausgeprägte Empfindlichkeit. Diese lässt sich sogar im Hirnscan nachweisen.

Wenn ihre Mutter den Staubsauger anstellte, verkroch sie sich unter den Tisch. Der Motor des VW-Käfers ihres Vaters versetzte sie in Panik. Und wenn sie auf einem Karussell saß, war ihr zum Weinen zumute. Heute ist Christina Schneider Anfang 30. Sie wirkt scheu, oft schaut sie beim Sprechen lieber auf ihre Hände als in die Augen ihres Gegenübers. „Normalerweise rede ich nicht so viel“, sagt sie, „aber dieses Thema liegt mir am Herzen.“

Mit diesem Thema meint die junge Frau ihre Hochsensibilität – eine Persönlichkeitseigenschaft, die erstmals 1997 die amerikanische Psychologin Elaine Aron beschrieben hat und die seither immer besser erforscht wird. Aron geht davon aus, dass 15 bis 20 Prozent der Menschen ein empfindsameres Nervensystem haben.



Etwa 20 Prozent der Menschen sind hochsensibel. Diese Schätzung bestätigte sich etwa in einer Studie, die die US-Psychologen Elaine und Arthur Aron 2014 durchführten. Sie untersuchten im Kernspintomografen die Hirnaktivität von frisch verheirateten Probanden. Diese sollten Bilder von ihrem Partner und Fremden mit glücklichem, traurigem oder neutralem Gesichtsausdruck betrachten. Bei Betrachtung der „emotionalen“ Bilder waren bei den Hochsensiblen jene Hirnregionen wesentlich stärker aktiviert, die mit Aufmerksamkeit, Aktionsplanung und Emotionen verknüpft sind.

Sie reagieren stärker auf die Reize ihrer Umgebung – auf Geräusche, Temperatur, Licht oder soziale Begegnungen. Auf der anderen Seite haben sie ein Auge für Details, Ästhetik und Kunst. Sie können sich gut in andere Menschen einfühlen. Gleichwohl betont Aron, dass Hochsensibilität nicht mit sozialer Kompetenz zu verwechseln ist – wenn die Nerven eines Hochsensiblen überreizt sind, kann er sich alles andere als verständnisvoll verhalten.

Aktuelle Studien stützen Arons Konzept: Hochsensible Menschen verarbeiten Reize im Gehirn anders und stärker. Auch gibt es Hinweise darauf, dass die Eigenschaft vererbt wird. Wie chinesische Forscher nachwiesen, stehen bestimmte Gene des Dopamin-Systems mit Hochsensibilität in Verbindung.

Drei Sensibilitätsarten messbar

Wie Hochsensible im Alltag zurechtkommen, ist unterschiedlich. Bei Christina Schneider fingen die Schwierigkeiten früh an: Kindergarten und Schule überforderten sie so sehr, dass sie einen sogenannten selektiven Mutismus entwickelte. Sie blieb stumm, sprach nur zu Hause. Lehrer unterschätzten sie, sodass sie nach der Grundschule auf die Hauptschule wechselte. Besser zurecht kam sie erst, als sie nach der 10. Klasse aufs Gymnasium gehen durfte. Sie fand zum ersten Mal Freunde, gewann Selbstbewusstsein und studierte Germanistik und Philosophie.

Auch die US-Psychologin Elaine Aron litt unter Hochsensibilität und führte lange ein zurückgezogenes Leben. „Ich war mir nur vage bewusst, welche Gelegenheiten ich verpasste, um dazuzulernen, um öffentliche Anerkennung für meine Fähigkeiten zu genießen und Kontakt zu Menschen unterschiedlichster Art zu knüpfen“, schreibt sie in ihrem Buch „The highly sensitive person“, deutscher Titel: „Sind Sie hochsensibel?“ (mvg Verlag). Sie machte eine Psychotherapie und arbeitete später selbst als Therapeutin. Erstmals beschäftigte sie sich in den 90er-Jahren mit der Frage, ob manche Menschen empfindlicher auf die Bedingungen und Anforderungen der Welt reagierten – und auch anfälliger für psychische Probleme sein könnten.

Der Hochsensibilität kamen sie und ihr Mann, der Psychologe Arthur Aron, schließlich in sieben Studien mit 1300 Versuchspersonen auf die Spur. In allen Gruppen zeigte ein Teil der Probanden ein Muster von Verhaltensweisen, die zunächst ziemlich unterschiedlich wirkten. Dazu gehörte eine hohe Empfindsamkeit in Bezug auf visuelle oder akustische Reize, Koffein, Hunger, Details, Kunst und Literatur und die Stimmungen anderer Menschen. Zudem fühlten sich diese Versuchspersonen sehr unwohl, wenn sie sich in Situationen, in denen Anforderungen an sie gestellt wurden, beobachtet fühlten. Sie waren häufiger überreizt und hatten dann das Bedürfnis, sich zurückzuziehen.

Die Arons entwickelten einen Fragebogen, den HSP-Scale. Er misst drei Sensibilitätsarten: ästhetische Sensitivität, eine niedrige Reizschwelle und eine leicht auslösbare Erregung, die stark miteinander zusammenhängen, was wiederum für ein einheitliches Merkmal spricht. Veröffentlicht wurde der Fragebogen 1997 im Journal of Personality and Social Psychology.

Hochsensibilität soll bekannter werden

Andere Wissenschaftler nahmen die Ergebnisse zunächst zurückhaltend auf. Zu viele Fragen waren offen, etwa die: Ist Hochsensibilität nicht nur ein anderes Wort für soziale Angst oder Introversion? Arons Studien zeigten jedoch, dass Hochsensibilität zwar mit Neurotizismus zusammenhängt, der sich durch emotionale Labilität und Ängstlichkeit äußert. Doch beides ist nicht dasselbe. Im Ergebnis erwiesen sich vor allem hochsensible Probanden mit schwieriger Kindheit als neurotisch. Nur 70 Prozent der Versuchspersonen waren introvertiert. Zu den 30 Prozent der Extrovertierten gehörten vor allem jene, die unter günstigen Bedingungen aufwuchsen und gelernt hatten, aus sich herauszugehen.

Auch Elaine Aron wünschte sich, noch mehr Diagnosemöglichkeiten als den HSP-Scale. Doch für Hochsensible, die auf dem Fragebogen hohe Werte erzielen, gibt es meist keinen Zweifel mehr. Sie empfinden oft große Erleichterung, wenn sie erfahren, was an ihnen anders ist: „Als ich 2003 entdeckte, dass ich hochsensibel bin, war ich zwei Monate lang euphorisch“, sagt der Dortmunder Jurist Michael Jack, Gründer des deutschen Informations- und Forschungsverbundes Hochsensibilität (www.hochsensibel.org). Er habe sein Leben lang einen Anpassungsdruck gespürt. „Da war immer eine Diskrepanz zu den anderen, das Gefühl, empfindlicher zu sein, andere Interessen zu haben.“

2001 erfuhr auch Christina Schneider von ihrer Hochsensibilität. Sie suchte den Austausch mit anderen Betroffenen. „Das hat mir sehr geholfen, ich habe da viel aufgearbeitet.“ Fortan wusste sie um ihre Empfindsamkeit und kann sie heute schätzen: „Ich habe den Eindruck, dass ich mehr Details und Nuancen wahrnehme als viele meiner Mitmenschen, in Bezug auf andere Menschen, Tiere und die Natur, Essen, Trinken, Kunst und Musik. Das möchte ich nicht mehr missen.“

Michael Jack möchte, dass die Hochsensibilität bekannter wird. Mit dem Verbund, der etwa 300 Mitglieder hat, will er auch die Forschung anregen: „Ich wünsche mir, dass der Begriff ins gesellschaftliche Bewusstsein übergeht.“ Seiner Meinung nach können Hochsensible ihre Besonderheit auch beruflich nutzen, etwa als verständnisvolle Führungspersonen.

Hochsensible können sich sehr gut konzentrieren

Auch einer unnötigen Pathologisierung oder Fehldiagnosen von hochsensiblen Menschen könnte entgegengewirkt werden. Denn Hochsensibilität allein ist keine Erkrankung – sie kann aber unter bestimmten Voraussetzungen anfälliger für Depressionen oder Angststörungen machen, weil auch negative Reize intensiver verarbeitet werden. Besonders wichtig in der psychotherapeutischen Praxis ist es, Hochsensibilität von anderen Störungen wie Autismus oder ADHS abzugrenzen, sagt Elaine Aron. Autismus geht etwa mit einem reduzierten Vermögen einher, soziale Reize zu verarbeiten – bei Hochsensiblen ist genau das Gegenteil der Fall.

Und im Gegensatz zu Menschen mit ADHS können sich Hochsensible sehr gut konzentrieren, wenn sie nicht überreizt sind. „Es ist wichtig, dass Menschen in sozialen Berufen besser Bescheid wissen, darunter etwa Erzieher, Lehrer, Ärzte oder Therapeuten“, sagt die Diplom-Pädagogin Cordula Römer, die einen Gesprächskreis für Hochsensible in Berlin aufgebaut hat. Sie gibt an der Volkshochschule Pankow Kurse für Eltern und Erzieher im Umgang mit hochsensiblen Kindern.

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