Psychologie: Großstädte für glückliche Menschen

Stadtmenschen haben ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen. Woran liegt das? Und was lässt sich dagegen tun? Psychologen und Architekten suchen nach den Faktoren, die eine gesunde Stadt ausmachen. Ihre Arbeit gleicht jedoch der Quadratur des Kreises.

Die zwei Trme des Bosco Verticale in Mailand, des vertikalen Walds, beherbergen 113 Wohnungen. Foto: Kirsten Bucher/Deutsches Architekturmuseum/dpa
Die zwei Türme des „Bosco Verticale“ in Mailand, des vertikalen Walds, beherbergen 113 Wohnungen.Foto: Kirsten Bucher/Deutsches Architekturmuseum/dpa

Stuttgart - Ein breiter Gehweg, ein Radfahrer, eine Seniorin mit Einkaufstrolley, ein Vater mit Kinderwagen – und schon hat man den schönsten Konflikt. Wie kommen diese Stadtbewohner mit ihren verschiedenen Geschwindigkeiten aneinander vorbei – und wieso sitzen eigentlich Schüler mit ihren Eisbechern im Weg? Auch wenn wir solche Situationen im großstädtischen Alltag manchmal anstrengend finden: Psychologen und Kulturwissenschaftler halten sie für wertvoll für unser Wohlergehen in der Stadt.

Wie kommen sie darauf? Das Leben in der Stadt ist für vieles gut: Menschen treiben mehr Sport, haben ein größeres kulturelles Angebot und verbrauchen weniger Ressourcen als auf dem Land. Für die Psyche hingegen ist das Stadtleben schlecht: Städter sind nicht nur gestresster, sie sind auch häufiger psychisch krank. „Wenn Sie in einer Stadt geboren werden, ist das Risiko für Schizophrenie etwa 300-prozentig erhöht“, sagt Andreas Meyer-Lindenberg vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Dieser Zusammenhang sei durch viele Studien belegt worden. Auch an Depressionen erkranken Städter häufiger. Die rasche Urbanisierung auf der ganzen Welt macht dem Psychiater Sorgen: „Da rollt ein Problem auf uns zu.“ Denn noch sei völlig unbekannt, woran das liegt.

Die Mannheimer Forscher haben zwar eine Region im Gehirn ausgemacht, in der Stress verarbeitet wird und die sich bei Städtern verändert. Meyer-Lindenberg sieht eine derart veränderte Struktur als Risikofaktor für psychische Krankheiten – so wie ein erhöhter Blutdruck ein Risikofaktor für einen Herzinfarkt ist. Aber was genau löst den Stress aus?„Es gibt keine belastbaren Daten, was eine Stadt gesund macht“, sagt er. Das liegt auch daran, dass eine Stadt zu vielschichtig ist. Wer zum Beispiel mehr Grün um sich herum hat, lebt in der Regel in einem gehobeneren Wohnviertel, hat vermutlich mehr Geld, einen sicheren Job, ein entspannteres Umfeld: Was davon macht ihn weniger gestresst?

Stress in der Stadt könnte vor allem sozialer Stress sein

Im Zeitalter von Big Data kommt den Psychologen die Technologie zu Hilfe. Meyer-Lindenberg stattet Versuchspersonen mit Smartphones aus, mittels derer die Forscher den Alltag nachvollziehen können. Durch GPS wissen sie, wann sich die Probanden wo aufhalten. Das vergleichen sie mit speziell dafür angefertigten Karten, in denen nicht nur Grünflächen markiert, sondern auch Informationen über die sozioökonomische Zusammensetzung der Stadtviertel, über Lärm, Licht und vieles mehr verzeichnet sind. Wenn die Teilnehmer bestimmte Gebiete betreten, bekommen sie automatisch Fragen gestellt: Wie geht es dir gerade? Die Forscher messen außerdem am Ende der jeweils einwöchigen Versuchsreihe ein Stresshormon in den Haarwurzeln und untersuchen die Probanden im Hirnscanner. „Wir hoffen herauszufinden, was im Alltag Stress verursacht“, sagt der Psychologe, „in der Hoffnung, dass Architekten und Stadtplaner etwas damit anfangen können.“

Erste Hypothesen gibt es bereits: Mazda Adli von der Berliner Fliedner-Klinik vermutet, dass Stadtstress sozialer Stress ist: „Er besteht wahrscheinlich aus den Komponenten der sozialen Dichte und der Isolation.“ Genau das, was viele in einer Stadt angenehm finden, nämlich anonym zu leben, setzt manchen zu: Sie fühlen sich einsam in der Masse. Soziologen haben belegt, dass das soziale Kapital auf dem Land höher ist und die Beziehungen dort verbindlicher sind. „Eine Stadt ist dann gut, wenn sie dazu führt, dass Menschen miteinander agieren“, sagt Adli. Man muss ihnen einen Anlass geben, vor die Tür zu treten. „Gut ist eine Stadt, die ein mediterranes Leben ermöglicht, das sich draußen abspielt.“ Dazu tragen unter anderem breite Gehwege bei, belebte Sockelgeschosse durch Cafés und Geschäfte. Wichtig sind außerdem Plätze, die sich von Menschen aneignen lassen zum Plaudern, Handeln, Essen, zur Erholung, zum Spielen oder Flirten.

Mit solchen Räumen beschäftigt sich der Kulturwissenschaftler Ludwig Engel. „Wichtig ist eine Funktionsmischung, denn nur so treffen unterschiedliche Vorstellungen von Raumnutzung aufeinander, nur dort wird Raum verhandelt“, sagt er. Diese Verhandlungen – etwa zwischen dem Radfahrer, der Oma mit ihrem Trolley und dem Vater mit seinem Kinderwagen – machen eine Stadt aus seiner Sicht lebenswert, sie bringen die Menschen in Kontakt. Funktionstrennung hingegen in Fußgängerzonen und Fahrradstraßen beispielsweise findet Engel falsch. Es sei auch wichtig, Orte zu haben, an denen Menschen nicht bewertet werden. „Das Tolle an der Stadt ist: Ich kann als Flaneur vor die Tür gehen, und keiner fragt mich: Was machen Sie hier?“

Viel Platz einplanen ist in der Stadt auch keine Lösung

Deshalb sei es wichtig für die psychische Gesundheit der Städter, eine Stadt als „unfertigen Organismus“ zu begreifen, der den Menschen Entwicklung zugesteht, sagt Engel. Gut dafür sei es beispielsweise, Baulücken nicht gleich wieder zu schließen, sondern sich darauf etwas entwickeln zu lassen. Und Flächen in einer Stadt zu schaffen, die allen gehörten, aber deren Nutzung völlig offen sei. „In Großstädten muss man Raum schaffen, der Mehrwert bringt für diejenigen, die auf Privatraum verzichten“, so der Kulturwissenschaftler.

Die Daten der Psychologen um Meyer-Lindenberg sowie ältere Untersuchungen lassen einen weiteren Schluss zu: Grünflächen und Natur wenden Stress von Großstädtern ab. „Das ist allerdings ein Dilemma“ sagt Riklef Rambow, Architekturpsychologe am Karlsruher Institut für Technologie: „Stadt heißt Dichte.“ Je weniger Fläche eine Stadt verbraucht, umso ökologischer ist sie. Wer Grün vor der Haustür haben will, zieht oft raus aus der Stadt. „Das führt zu Suburbanisierung und in der Konsequenz zu einer Auflösung der Stadt.“

Der italienische Architekt Stefano Boeri hat das auf eine naheliegende Weise gelöst: Er baute auch die Natur in die Vertikale. Ein „Bosco Verticale“, ein vertikaler Wald ragt seit einem Jahr in Mailand in die Höhe, ein Hochhaus mit riesenhaften Balkons, auf denen Bäume wachsen. Eines Tages soll dort so viel Grün wachsen wie in einem Hektar Wald. „Das scheint das Ei des Kolumbus zu sein“, sagt Rambow, „aber wer kann sich Quadratmeterpreise von 9000 Euro leisten?“ Es ist ein Projekt für Reiche, zudem ist noch offen, ob das Konzept tragfähig ist. Rambow erinnert das an das Commerzbankhochhaus in Frankfurt am Main, das 1997 mit ähnlich revolutionären Plänen angetreten war: hängende Gärten sollten das Gebäude auf der gesamten Höhe umwuchern. „Von außen ist heute davon nichts wahrnehmbar“, sagt Rambow, „die Symbiose von Grün und Architektur ist hochproblematisch.“

Bleibt also doch nur das Rausziehen ins Grüne? Der Architekturpsychologe findet, dass es auch überschaubarere Maßnahmen tun wie Schrebergärten, Straßenbegrünung, „Pocket Parks“ – das sind kleine begrünte Plätze – oder begrünte Dächer. Auch die Graswurzelbewegung des „Urban Gardening“, in der Städter jede Verkehrsinsel und jedes Baumbeet bepflanzen, könnte vielversprechend sein, wenn sich der Trend hält. Solche Räume müssen planerisch geschützt werden, fordert er. Viele Stadtplaner führen zudem das Tempelhofer Feld in Berlin als Beispiel dafür an, wie Natur und Weite in die Stadt gebracht wurden: Das Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof wurde auf einen Bürgerentscheid hin nicht bebaut – „ein irrer Luxus“, wie Rambow findet. Dennoch müsse man in die Rechnung einbeziehen, dass ein Erhalt derartig riesiger Freiflächen in dicht besiedelten Städten nicht umsonst ist: Im Gegenzug steigen Mieten und Immobilienpreise angesichts knapper Flächen. Die Quadratur des Kreises ist eben doch nicht möglich.

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