Psychologie Entschuldigung, kennen wir uns?

Stuttgart - Namen vergessen, den Nachbarn nicht erkannt oder sich in der Heimatstadt verlaufen? Solche Aussetzer hat wohl jeder schon erlebt. Aber welcher Grad an Vergesslichkeit ist normal und wann steckt etwas Ernstes dahinter? „Ich habe mich schon lange gefragt, warum sich andere Leute so gut Gesichter merken können und entfernte Bekannte auch nach Jahren freundlich auf der Straße grüßen“, sagt Thomas Grüter. Inzwischen weiß der Mediziner aus Münster, dass er keineswegs eine stärkere Brille braucht. Er leidet unter der angeborenen Gesichtsblindheit, auch Prosopagnosie genannt. Betroffene sehen, dass ein Gesicht aus Augen, Nase und Mund besteht, sie können seine Attraktivität beurteilen und Emotionen erkennen. Wenn es jedoch darum geht, das Gesicht einer Person zuzuordnen, scheitern sie.

Rund zwei Prozent der Bevölkerung könnten mit dieser sogenannten Teilleitungsstörung auf die Welt gekommen sein – sie wäre damit etwa so häufig wie die Lese-Rechtschreib-Schwäche. Diese Schätzung haben Kollegen Grüters anhand einer Befragung von 500 Schülern ermittelt. Meistens fallen Gesichtsblinde – darunter sind Prominente wie die Affenforscherin Jane Goodall und Prinzessin Victoria von Schweden – im Alltag nicht auf. Sie haben Strategien entwickelt, um mit ihrem Defizit zu leben: Sie merken sich Personen anhand der Stimme, am Gang oder Kennzeichen wie Brillen und Frisuren. Trägt die Kollegin auf einmal Kontaktlinsen oder hat der Vereinskamerad eine Mütze auf dem Kopf, sind sie aufgeschmissen.

Wer Gesichter nicht erkennt, ist nicht gleich Autist

„Diese Ausweichstrategien sind typisch, deshalb fragen wir Patienten mit Verdacht auf Gesichtsblindheit, anhand welcher Kennzeichen sie Bekannte und Verwandte identifizieren“, sagt Grüter. Alternativ gibt es Tests, bei denen Probanden am Bildschirm Gesichter gezeigt werden. Diese Gesichter, aus denen auffällige Merkmale wie Muttermale oder der Haaransatz entfernt wurden, müssen sie nach einiger Zeit wiedererkennen.

Bei gesichtsblinden Kindern sind früher oft autistische Störungen diagnostiziert worden: In der Krabbelgruppe bleiben sie an der Seite ihrer Mutter – wohl aus Angst, den Elternteil später nicht mehr wiederzuerkennen. Außerdem sehen junge Prosopagnostiker ihrem Gesprächspartner selten in die Augen, Gesichter sind ihnen einfach nicht so wichtig. Abgesehen davon haben sie aber keine Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen. Prosopagnostiker können auch Objekte wie Häuser problemlos unterscheiden, lediglich der Abgleich von Gesichtern mit im Hirn gespeicherten Informationen funktioniert nicht richtig.

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