Psychologie: Die Libido des permanenten Schnorrers – Nachrichten Gesundheit …

Er ist ein Alltagsphänomen, das sich durch alle Gesellschaftsschichten zieht. Bei den Ärmsten ist er genauso anzutreffen wie bei den ganz Reichen. Viele empfinden ihn als äußerst unangenehm und seit Christian Wulff hat er neue Berühmtheit erlangt – der Schnorrer. Doch was verbirgt sich hinter diesem Verhalten? Gibt es den typischen Schnorrer?

Hand aufhalten

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Der Schnorrer hält gern die Hand auf - tritt aber dabei selbstbewusst auf (Illustration)

„Ursprünglich war der Schnorrer im Judentum eine wichtige Person, deren Dienste von der Öffentlichkeit durchaus anerkannt wurden. Er nahm die Spenden reicher Leute an, damit diese ihre Barmherzigkeit zeigen konnten“, sagt Johannes Döser, Psychoanalytiker, Psychosomatiker und Kinderpsychiater in Essen.

Eine löbliche Leistung also, die beiden Parteien diente. Der Schnorrer hatte Geld für das religiöse Leben der Gemeinde, der Spender konnte seinen religiösen Pflichten nachkommen.

Wer als Schnorrer bezeichnet wird, genießt heute wenig Ansehen

Im Laufe der Zeit verkehrte sich die Bedeutung des Begriffs im deutschen Sprachgebrauch mehr und mehr ins Negative. Wer heute als Schnorrer bezeichnet wird, hat durch wiederholtes Bitten um Kleinigkeiten wie Zigaretten oder geringe Geldbeträge den Unmut seines Umfeldes auf sich gezogen.


Bereits bei Kindern ist dieses Verhalten zu beobachten. Etwa, wenn der Freund immer die schöneren Panini-Bildchen hat oder das Zopfgummi der Klassenkameradin einfach viel hübscher aussieht. „Es handelt sich hierbei um den libidinösen Wunsch nach Partizipation. Das Kind möchte Teil einer Gruppe sein, fühlt sich jedoch ausgeschlossen, da es nicht all die schönen Dinge hat, die die Freunde haben“, sagt Thomas Hartung, Psychoanalytiker und Facharzt für Psychosomatische Medizin in Düsseldorf.


Christian Wulff

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Christian Wulff war keine zwei Jahre Bundespräsident. "Welt Online" zeigt seine Karriere: Hier vor fast 20 Jahren in seiner Osnabrücker Anwaltskanzlei.


Christian Wulff

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Der erste Versuch: 1994 möchte Wulff Ministerpräsident von Niedersachsen werden.


Christian Wulff

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Hier strahlt Christian Wulff 1996 mit seiner zweijährigen Tochter auf einem Wahlplakat.


Christian Wulff

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Auf dem Weg nach oben: Wulff nach einer Wahlkampfrede 1998. Er versuchte damals erneut, Landesvater von Niedersachsen zu werden. Helmut Kohl spendete Applaus.


Christian Wulff

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Das waren noch glückliche Zeiten: Christian Wulff und Angela Merkel im Jahr 2000 auf dem Landesparteitag der CDU in Osnabrück.


Christian Wulff

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Auch 2003 war Wulff Spitzenkandidat für die Landtagswahlen. Hier posiert er mit seiner damaligen Ehefrau Christiane.


Christian Wulff

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Na endlich: Wulff gelingt 2003 der Durchbruch. Er kann sich gegen Sigmar Gabriel (SPD) durchsetzen und wird Ministerpräsident.


Christian Wulff

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Wichtig und oben: Christian Wulff beerbt 2010 Horst Köhler als Bundespräsident. Er ist der Wunschkandidat von Angela Merkel.


Christian Wulff

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Sie machten stets eine gute Figur: Wulff und seine neue Frau Bettina


Christian Wulff

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Der Beginn der Affäre: Egon und Edith Geerkens leihen dem damaligen Ministerpräsidenten 500.000 Euro. Wulff verschweigt dies dem Niedersächsischen Landtag. Journalisten beginnen zu recherchieren.


Christian Wulff

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Rauswurf: Kurz vor Weihnachten entlässt er seinen Sprecher Olaf Glaeseker.


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Wullfs nächster Stolperstein: Beim AWD-Gründer Carstem Maschmeyer (r.) machte der Bundespräsident kostenlos Urlaub.


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Der Bundespräsident kann der Kritik kaum noch ausweichen. Am 4. Januar stellt er sich den Journalisten. ARD und ZDF übertragen live.


Christian Wulff

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Freund und Finanzier: Wulff mit Filmemacher Groenewold. Die Staatsanwaltschft ging der Sache nach und beantragte zuletzt die Aufhebung der Immunität.


Christian Wulff

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Christian Wulff erklärt am 17.2. 2012 um 11.03 Uhr im Schloss Bellevue seinen Rücktritt.


Christian Wulff

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Das wars: Nach kurzer und schmerzhafter Rede verlässt der Ex- Bundespräsident die Bühne.

Wenn die Eltern ihrem Nachwuchs den gewünschten Gegenstand nicht kaufen, gibt es mehrere Reaktionsmöglichkeiten. Das Kind lernt zu verzichten, oder es kann sich den begehrten Gegenstand ausleihen – eine sozial akzeptierte Form der Partizipation. Spätestens bei Süßigkeiten gestaltet sich das Ausleihen jedoch als schwierig bis unmöglich. Schnorren ist hier ein möglicher Weg, um ans Ziel zu kommen.

„Dieses Verhalten kann schnell zu einem Teufelskreis werden und sich verfestigen“, so Hartung. Das Problem sei, dass die innere Bedürftigkeit nur einen Moment gestillt werde. Da sie im Untergrund weiterbesteht, rückt bald eine andere Sache in das Zentrum des Verlangens – das Spiel beginnt von vorn.

Schnorren als semantischer Irrtum

Noch schwieriger wird es, wenn der wahre Grund für das Schnorren in den Tiefen der Psyche versteckt ist. Die Motive können mannigfaltig sein. Ein weinendes Kind, das von seinen Eltern immer nur mit Süßigkeiten getröstet wird, merkt, dass es durch das Weinen an Leckereien kommt. Der Ursprung seines Weinens ist jedoch der Wunsch nach Liebe, Zuneigung und Trost.

Hartung spricht in diesem Zusammenhang von einem semantischen Irrtum: „Hierbei wird ein seelisches Defizit auf die materielle Ebene verlagert. Der Schnorrer fühlt sich innerlich arm. Eigentlich will er Zuneigung, bekommt jedoch stattdessen ein Stück Kuchen.“ Der wahre Grund für die seelische Bedürftigkeit werde also überdeckt und könne schließlich sogar zur unbemerkten, latenten Depressivität führen. Für die Zukunft heißt das: Immer wenn das Kind sich einsam fühlt, sucht es sich eine vertraute Person und bittet um Süßes.

Mit fortschreitendem Alter kann das Schnorren zum Charakterzug werden. Die Person entwickelt eine regelrechte Begabung auf diesem Gebiet. „Jugendliche und auch Erwachsene wollen nicht wie ein Bettler wirken und eignen sich deshalb charmante Fertigkeiten an, um möglichst elegant an ihr Ziel zu kommen“, sagt Döser. Auffällig ist, dass sich schnorrende Menschen kaum unterwürfig verhalten, sondern meistens sehr souverän an ihre Wohltäter herantreten.

Probleme im Freundeskreis

Doch auch die eleganteste Technik kann eine Freundschaft auf die Probe stellen. Fragt man seinen Freund einmal nach Geld, ist das vollkommen in Ordnung. Beim vierten oder fünften Mal beginnt der Geldgeber, sich ausgenutzt zu fühlen. Doch wie sollte man einem schnorrenden Freund Einheit gebieten?

Manchmal kann man die Situation auch mit Humor entschärfen, da der andere auf diese Weise nicht so gekränkt wird. Klare Richtlinien gibt es allerdings nicht. „Wenn öfter geschnorrt wird, ohne dass es jemals eine Gegenleistung gibt, sollte man Nein sagen können. Wichtig ist, mit dem nötigen Fingerspitzengefühl vorzugehen.

Jeder Mensch ist anders – und den Schnorrer schlechthin gibt es nicht“, sagt Hartung. Es kann auch vorkommen, dass das vermeintliche Opfer das Schnorren durch seine Großzügigkeit regelrecht herbeiführt und sich so seine Schnorrer heranzüchtet. Diesen Menschen geht es unter Umständen einfach nur darum, sich besser zu fühlen und das eigene Selbstwertgefühl zu stärken.

Doch in den meisten Fällen legt es der Wohltäter nicht auf Großzügigkeit an und empfindet den Schnorrer nach einiger Zeit als unangenehm. Aber warum bemerkt dieser sein eigenes Fehlverhalten nicht? „Schnorren berührt Schamgefühle, ist aber nicht – wie etwa Diebstahl – mit Schuld und Strafe verbunden. Der Schnorrer verleugnet die Scham einfach und blendet sie aus“, sagt Hartung. Dieses Verhalten sei jedoch schwer zu generalisieren. Viele Menschen schämen sich durchaus und schnorren nur ab und zu aus einer Notlage heraus.

Schnorrende Menschen kreisen um ihre Wohltäter

Ein Fehler ist es, diesen Leuten Geiz zu unterstellen. Jemand, der geizig ist, möchte seinen Besitz beisammenhalten. Der Schnorrer hat jedoch ein Defizitgefühl. Ihm fehlt etwas, das sein Gegenüber hat – Geiz liegt ihm fern. Auch der manchmal mit dem Schnorren in Verbindung gebrachte Begriff der Egozentrik ist nicht angebracht: „Ein Egozentriker setzt sich in dem Mittelpunkt. Der Schnorrende hingegen kreist um seinen Wohltäter, merkt jedoch nicht, in welches Abseits er gerät“, sagt Psychiater Döser.



Causa Wulff erinnert Claudia Roth an Dietl-Film

Sein Kollege Hartung wählt für die Beziehung zwischen Schnorrer und Wohltäter den technischen Vergleich von Batterie und Ladegerät. Der Schnorrer werde durch seinen Wohltäter wie eine Batterie aufgeladen. Er fühlt sich gut, bis er wieder ein Defizitgefühl verspürt, dann wird erneut geladen.

Wie kommt der Schnorrer aus diesem Teufelskreis heraus? „Er muss sich emanzipieren und vom Wohltäter frei machen. Das kann genauso schwer sein, wie mit dem Rauchen aufzuhören“, sagt Döser. Hierfür fängt er im günstigsten Fall irgendwann an, sich zu schämen. Denn durch den Zuwachs an Selbstwertgefühl, der mit der aufkommenden Scham einhergeht, wächst die Bereitschaft, den Verzicht zu leisten. Bis dahin ist es ein langer Weg.

Nach wie vor ist Schnorren in der Gesellschaft ein unangenehmes Thema. Wer im Internet oder Buchhandel nach Fachliteratur sucht, wird nur wenige Beiträge finden. Aber woran liegt das? Johannes Döser sagt dazu: „Das Schnorren ist meist eine kleine, beiläufige und schambesetzte Sache – das ist kein attraktives Thema für die Wissenschaft. Außerdem müsste jeder Seelen-Forscher bei sich selbst anfangen. Und gibt es wirklich jemanden, der noch nie geschnorrt hat?“

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