Psychologie: Die Jesus-Verschwörung

Manche Menschen entdecken die Gesichtszüge des Erlösers auf einer Toastscheibe. Andere haben Ufos geortet. Warum wir Dinge sehen, die es nicht gibt. von Hartmut Wewetzer

Drüben in Amerika ist es schon fast ein Volkssport. Auf Lebensmitteln
wie Toastbrotscheiben, gegrilltem Käse, Piroggen, Pancakes und Tacos
wird nach Abbildern von Jesus oder anderen religiösen Persönlichkeiten
und Symbolen gesucht. Gottes Gesichtszüge brennen sich scheinbar in den
Pizzaboden ein wie einst Christus’ Umrisse in das legendäre Turiner
Grabtuch. In einem religiösen Land wie den USA ist die Begeisterung für
Seine Spuren im Teig oft nicht nur spaßhaft gemeint. Vielleicht steckt
ja mehr dahinter, ein Omen, ein Fingerzeig.

Auch wissenschaftlich
wird das Phänomen ergründet. Ein chinesisch-kanadisches Forscherteam
ging der Frage nach, was im Gehirn eines Menschen passiert, wenn er
Jesus auf der Toastbrotscheibe erblickt hat.Die im Fachblatt Cortex veröffentlichten Ergebnisse wurden nun mit einem ironischen Ig-Nobelpreis ausgezeichnet, gewissermaßen der goldenen Zitrone der Wissenschaft.
Gewiss,
Gott und Fastfood passen nicht so recht zusammen. Diese absonderliche
Kombination in einer Studie war der Grund für die Preisverleihung.
Trotzdem hat die Forschung einen ernsthaften Hintergrund. Denn es ist
Teil der menschlichen Natur, die Zeichen zu deuten. Wir sehen Gesichter,
wo eigentlich keine sind – sei es auf Brotscheiben, Felswänden oder in
Wolkenformationen. Das Erkennen von Mustern und Regeln, von Ordnung und
Bedeutung im Wirrwarr der Natur ist eine herausragende Fähigkeit des
Gehirns.

Anzeige

Bereits
zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten Wissenschaftler diesem
Phänomen auf den Grund zu gehen. Gestalttheorie hieß jener Zweig der
Psychologie, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland (vor
allem in Berlin) begründet wurde und der sich mit der Fähigkeit des
Gehirns beschäftigte, Erscheinungen aus der Umwelt zu einem Ganzen zu
ordnen, ihnen "Gestalt" zu geben.
Der evolutionäre Nutzen des
"Gestaltsehens" liegt auf der Hand. Es half unseren Vorfahren, den Tiger
im Gebüsch zu erkennen und rechtzeitig die Flucht zu ergreifen – oder
das getarnte Reh aufzuspüren und zu erlegen.

Das Deuten von Zeichen kann Teil einer Schizophrenie sein

Auch die Kunst bedient
sich dieses Vermögens. Leonardo da Vinci hat beschrieben, wie er auf
einer schmutzigen Hauswand Landschaften "mit Bergen, Flüssen, Felsen,
Bäumen" sah, dazu Schlachten und Figuren, seltsame Gesichter und
Kostüme. Das Talent des Künstlers erschafft so ganz neue Welten.

Was
künstlerisch erlaubt oder sogar zwingend ist, kann bei manchen Menschen
Ausdruck einer psychischen Krankheit sein. "Apophänie" nannte der
deutsche Psychiater Klaus Conrad 1958 das Phänomen, dass Menschen mit
einer beginnenden Schizophrenie die Realität plötzlich als doppelbödig
empfinden. Banale und zufällige Alltagserlebnisse, ein Smalltalk mit dem
Nachbarn, die Bemerkung des Radiomoderators, ein vorbeifahrendes Auto
bekommen für den Wahnkranken eine tiefere, oft bedrohliche Bedeutung.
Alles hängt mit allem zusammen, alles ist verknüpft, vielleicht Teil
eines Komplotts. Es ist, als ob sich die Fähigkeit zur Mustererkennung
selbstständig gemacht hat und Muster sieht, wo keine sind.

Verschwörungstheorien als soziales Phänomen

Apophänie
lässt sich auch als soziales Phänomen begreifen. Weit verbreitete
Verschwörungstheorien etwa sind der suggestive Versuch, das
Weltgeschehen zu deuten und dabei im Verborgenen tätige Mächte zu
entlarven. Die Pharmafirma hat längst ein Heilmittel gegen Krebs, hält
es aus Profitgründen aber geheim. Die Mondlandung wurde simuliert, Ufos
sind bereits gelandet, John F. Kennedy wurde vom amerikanischen
Geheimdienst CIA ermordet und der Geheimorden der Illuminaten trachtet
nach der Weltherrschaft.

Viele dieser Theorien haben einen wahren
Kern – Pharmafirmen wollen Profit machen, die Mondlandung war politisch
höchst willkommen, Geheimgesellschaften unterhalten Netzwerke, die CIA
greift zu rabiaten Methoden. Dieser wahre Kern macht es
Verschwörungstheorien leicht, sich in unsern Köpfen festzusetzen. Aber
sie schießen weit über das Ziel hinaus. So wie Leonardos Fantasie, die
auf einer schmuddeligen Wand ein ganzes Welttheater vorbeiziehen sieht.
Das macht diese Theorien unterhaltsam, aber auch gefährlich. Für
paranoide Verschwörungsideen und ihre Folgen liefert die Weltgeschichte
leider genügend Beispiele.

Erschienen im Tagesspiegel

Open all references in tabs: [1 - 4]

Leave a Reply