Psychologie – Die Bürde des Schweigens

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Geheimnisse können so belastend sein wie ein körperliches Leiden. Eine Befreiung ist nicht leicht. Offenheit wäre in vielen Fällen die richtige Strategie, um körperliche Beschwerden zu verhindern.

Schart sich die Familie einmal im Jahr um den Tannenbaum, ist das nicht immer eine heile Welt, sondern manchmal ein regelrechtes Pulverfass. Ein Blick, eine Andeutung, ein Nebensatz - es bedarf nur eines Funkens, um die Stimmung explodieren zu lassen. Viele Menschen verfahren deshalb nach dem Motto: Nicht daran rühren, sonst kracht es. Familien haben häufig gut gehütete Geheimnisse. Die Alkoholsucht des Onkels. Der Seitensprung der Ehefrau. Die Kriegsschuld des Großvaters. Es sind Tabuthemen, über die man lieber nicht spricht. Schließlich lässt sich auch im Rest des Jahres ganz gut mit der Verdrängung leben.

Dabei wäre Offenheit in vielen Fällen die richtige Strategie, wie eine amerikanische Forschergruppe um den Psychologen Michael Slepian bereits vor drei Jahren im Journal of Experimental Psychology nachwies. Sie fanden heraus, dass die Geheimhaltung nicht nur psychische Folgen hat, sondern körperlich belastet. Dazu wagten sie sich an einen etwas ungewöhnlichen Versuchsaufbau.

Für ein Experiment forderten sie 40 Probanden auf, sich an ein wichtiges persönliches Geheimnis zu erinnern. Die Versuchsteilnehmer sollten aufschreiben, was dieses für sie bedeutet, und warfen die Zettel in eine bereitgestellte Schachtel. Anschließend gaben die Wissenschaftler vor, ein zweites Experiment durchzuführen. Tatsächlich handelte es sich um dasselbe. Die Studenten sollten einschätzen, wie robust ein Tisch ist, wie weit eine Distanz und wie steil ein vorausliegender Hügel. Dabei interessierte die Forscher vor allem die Frage mit dem Hügel. Wie steil würden die Versuchsteilnehmer mit großen Geheimnissen das Hindernis einschätzen? Das Resultat: Probanden mit großen Geheimnissen - die Themen wie ihre sexuelle Orientierung oder einen Seitensprung betrafen -, schätzten den Hügel signifikant steiler ein als jene, die zuvor erklärt hatten, nur ein kleines Geheimnis zu haben.

Auch wenn das Experiment etwas abenteuerlich klingt und die Zahl der Probanden gering war, haben andere Forscher seither bestätigt, dass sich Geheimhaltung auf das körperliche Wohlbefinden auswirkt: Große Geheimnisse werden nicht nur als psychische, sondern auch als physische Last empfunden - wie ein Rucksack auf dem Rücken. In drei weiteren Studien stellte sich heraus, dass Geheimnisträger auch Distanzen als größer und körperliche Aufgaben als mühsamer beurteilten. Zudem waren Träger von großen Geheimnissen weniger bereit, anderen zu helfen, wenn es beispielsweise darum ging, Umzugskartons zu schleppen.

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Rückt man mit der Wahrheit heraus, steht nicht selten die Partnerschaft auf dem Spiel

In diesem Jahr hat Slepian das ursprüngliche Experiment mit 100 neuen Versuchsteilnehmern wiederholt. Mit ähnlichem Resultat, doch bestätigte sich die Gleichung großes Geheimnis, steiler Hügel - kleines Geheimnis, weniger Steigung nicht mit der Genauigkeit, die Slepian erhofft hatte.

Daraufhin prüfte der Forscher seine Grundannahmen: Eine außereheliche Affäre würden die meisten Menschen als großes Geheimnis bezeichnen. Doch was, wenn die Untreue weit zurücklag oder die betrogene Person sie akzeptiert hatte? Die Unterscheidung in große und kleine Geheimnisse kam Slepian unpräzise vor. Er änderte seinen Versuchsaufbau. Die Teilnehmer sollten zusätzlich Fragen beantworten: Wie oft denkst du über dein Geheimnis nach? Wie stark berührt es dich? Bereitet es dir große Sorgen?

Das Ergebnis dieser verfeinerten Studie war eindeutig: Geheimnisse, die ihren Träger umtrieben, beanspruchten und aufregten, beeinflussten die Wahrnehmung des Geheimnisträgers signifikant. Probanden, die beschrieben, dass sie ein Geheimnis gedanklich stark beschäftigte, schätzten die symbolischen Hügel als steiler ein, nahmen ihre Umwelt als fordernder und anstrengender wahr.

Geheimhaltung belastet, lenkt ab, verzerrt unsere Wahrnehmung. Doch was bedeutet dies im Umkehrschluss? Sollte jedes Geheimnis aus Gründen der Entlastung offengelegt werden? Immerhin ist auch das Enthüllen von Geheimnissen mit erheblichen sozialen Folgen verbunden. Rückt man mit der Wahrheit heraus, steht nicht selten die Partnerschaft, manchmal sogar das Verhältnis zu den Kindern auf dem Spiel. Muss man Seitensprünge also beichten? "Viel entscheidender ist die Frage, was ich in der Nebenbeziehung suche und in der Partnerschaft vermisse", sagt Peter Kaiser.

Der Familienpsychologe behandelt in seiner Praxis häufig Menschen, die Nebenbeziehungen führen. Nicht selten entstehen daraus Kinder. "Es gibt rund 40 000 Kuckuckskinder in Deutschland,", schätzt Kaiser. Affären und Seitensprünge kämen häufig vor. Um zu entscheiden, ob man seinem Partner einen Seitensprung beichtet - also das Geheimnis lüftet - müsse man sich zunächst fragen, wie viel Wahrheit die Beziehung vertrage. Dabei helfen Eifersuchtsregeln. Das Paar sollte schon vorher klären, was in der Beziehung erlaubt ist und was nicht. Was also exklusiv mit dem Partner geteilt wird und was auch mit anderen Menschen.

Wenn diese Fragen geklärt seien, ergebe sich zumindest mal ein Bild davon, was der Partner erfahren wolle. Worauf er also glaubt, ein Recht zu haben. Das sei das erste Kriterium. Daneben gebe es auch noch die Frage, was man selbst wolle. Wird man das, was man vermisst, jemals beim Partner finden? Ist man bereit, Probleme in der Ehe anzusprechen? Oder will man Konflikte vermeiden und lässt die Affäre weiterlaufen? "Es gibt im Leben erwachsener Menschen immer wieder Phasen, in denen man Unklarheit aushalten muss. Manchmal dauert es, bis man weiß, was man will", sagt Kaiser. In dieser Zeit entstünden manchmal Geheimnisse.

Belastend wird es, wenn Kinder unfreiwillig zu Mitwissern von Erwachsenengeheimnissen werden. Hier entfaltet Geheimhaltung seine ganze zerstörerische Kraft. Günter Reich, Leiter der Ambulanz für Familientherapie in der Klinik für Psychotherapie in Göttingen, erzählt von dem Fall einer Patientin M., die 14 Jahre alt war, als ihre Mutter mit ihr in eine große deutsche Stadt fuhr, um eine Tante besuchen. Zumindest war das der vorgeschobene Grund. Der eigentliche Anlass für die Reise war ein Treffen mit dem Geliebten der Mutter. Die Tochter begriff, dass dieses Geheimnis ihren Vater verletzen würde, und reagierte alarmiert. Als das Telefon klingelte, bat die Mutter die Tochter, den Anruf entgegenzunehmen und dem Vater auszurichten, dass die Mutter einkaufen sei. Diese Lüge hatte fatale Folgen für das Kind. "Sie war von ihrer Mutter in ein Bündnis gezogen worden, das sie nicht wollte. Plötzlich musste sie deren Lügen mittragen", sagt Reich. "Die Patientin kam zu uns in Behandlung, weil sie stark verunsichert war und nicht mehr zwischen ihrem persönlichen Erleben und der Realität unterscheiden konnte. Die Wirklichkeit, die die Mutter entwarf, um den Vater zu täuschen, entsprach nicht der Wirklichkeit des Kindes. Diese Diskrepanz glich die Tochter aus, in dem sie ihre eigene Wahrnehmung anzweifelte und nicht die der Mutter. Sie wollte deren Liebe und Zuneigung nicht verlieren. Gleichzeitig fühlte sie sich schuldig dem Vater gegenüber."

Loyalitätskonflikte sind schon für erwachsene Menschen schwer auszuhalten, Kinder überfordern sie komplett. Sie wollen beide Eltern lieben dürfen. Als sich die Eltern schließlich trennten, machte sich die Tochter Vorwürfe, weil sie ein Geheimnis vor ihrem Vater hatte.

Vom zwölften Lebensjahr an beginnen Jugendliche, öffentlich und privat zu unterscheiden

Ähnlich geht es häufig Opfern von sexuellen Missbrauch. Derart düstere Familiengeheimnisse behalten die Opfer aus Scham lange für sich. Nicht selten deckt die Mutter den Missbrauch durch den Ehemann. Die Eltern werden zu Komplizen. Für die Opfer macht es das schwerer, dieses Geheimnis zu lüften. Angehörige verzerren, beschönigen und leugnen die Realität. Sie reden dem Opfer ein, es habe es doch so gewollt, oder bestreiten, dass es eine Vergewaltigung gegeben habe. Manchmal erfinden Familien regelrechte Ersatzrealitäten. Nach Jahren des Missbrauchs stellen die Opfer ihre eigene Wahrnehmung infrage. Das Geheimnis mit anderen Menschen zu teilen, wird fast unmöglich, weil das Vertrauen zu anderen Menschen tief gestört ist. Menschen, die das Kind lieben sollte - wie die Mutter, haben nicht geholfen. Warum also sollten Fremde das tun.

"Diese Menschen brauchen ganz viel Zeit, bis sie sich öffnen", sagt Reich. Auch wenn der Therapeut sexuellen Missbrauch vermutet, überlässt er es den Betroffenen, darüber zu reden. "Den Zeitpunkt bestimmt der Patient. Gerade, wenn es sich um ein traumatisches Ereignis handelt, ist es wichtig, dass das Geheimnis in einem Tempo enthüllt wird, das der Patient verkraften kann."

Traumatisch können auch Suizide oder Suizidversuche auf die Familie wirken. Familiengeheimnisse dieser Art werden häufig verschwiegen. Zu schmerzhaft ist es für die Angehörigen, darüber zu sprechen. Zu viele Fragen wirft die Tat auf. Kinder bemerken das und wollen wissen, ob sie beunruhigt sein müssen. Viele Eltern weichen dann aus, reagieren gereizt oder geben widersprüchliche Antworten, weil sie selbst nicht damit umgehen können oder Schuldgefühle haben. Vor allem Kinder in einem Alter, in dem sie emotional noch sehr eng an die Eltern gebunden sind, stürzt Wagenburgverhalten in große Unsicherheit. Unklarheit und ein diffuses Bedrohungsgefühl beeinflussen die Familienentwicklung. Auch in den eigenen Beziehungen kann sich das fortsetzen. Konflikte werden umgangen, Ängste und Zweifel nicht artikuliert. Geheimhaltung kann so über Generationen hinweg das Bindungs- und Kommunikationsverhalten der Familie beeinflussen.

Doch sind Geheimnisse immer schlecht? Bei all diesen dunklen Seiten des Verschweigens bietet es Menschen auch Schutz. So ermöglichen Geheimnisse Jugendlichen, die Eltern von bestimmten Erfahrungen auszuschließen. Tagebücher, Schlüssel an Schränken und Schubladen - viele Dinge spielen sich in diesem Alter im Verborgenen ab. Vom zwölften Lebensjahr an beginnen Jugendliche zwischen öffentlich und privat zu unterscheiden. Diese Erkenntnis ist wichtig für ihre Autonomie. Sie lernen, dass sie nicht verpflichtet sind, alles zu teilen.

Diesem Wunsch nach Verborgenem steht die Öffentlichkeit im Netz gegenüber. Auf Facebook, Twitter und Instagram teilen Menschen persönliche Erlebnisse mit sehr vielen Menschen. Wie wirkt sich das auf unser Privatleben aus? "Ganz einfach, was wir zeigen, wird zum Fake. Die verletzlichen Seiten werden einfach nicht gezeigt", sagt Günter Reich. Zu sehen bekommt man stattdessen eine Auswahl dessen, was allgemein wahrgenommen werden soll. Mitunter werde der Körper offen gezeigt, aber der Glaube, Probleme oder Selbstzweifel würden ausgespart.

Doch hat jemand, der nicht alles öffentlich machen will, nicht zwangsläufig etwas zu verbergen? "Nein, manche Dinge sind einfach nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Wir haben ein Recht auf unsere Privatheit, solange es nicht um Geheimnisse geht, die anderen Menschen schaden", sagt Reich.

Geheimnisse bedeuten manchmal Freiheit, weil sie Grenzen ziehen. Manchmal belasten sie den Geheimnisträger, weil sie an ihm zerren und ihn niederdrücken. Geheimnisse können konstruktiv sein, wenn sie die Loyalitätsbeziehungen und das Vertrauen der Familie untereinander respektieren. Geheimhaltung verunsichert und belastet die Familie, wenn sie Dialoge unterdrückt und den Geheimnisträger vom Rest der Familie isoliert. Leben Eltern den Kindern vor, dass man bestimmte Themen totschweigt, besteht zudem die Gefahr, dass junge Menschen dieses Verhalten übernehmen.

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