Psychologie : Der Tod des Anderen

Ohne einen triftigen Grund spuckt Sabine F. manchmal Blut. Normalerweise sind es nur dünne rote Fäden. Als aber ihr Mann vor einigen Jahren schwer erkrankte, wurde es schlimm. So schlimm, dass sie dachte, sie erstickt. Damals fühlte sie den Tod das erste Mal ganz nah und fürchtete vor allem, er könnte ihr den Mann nehmen. Dann wäre sie mit 84 Jahren nicht nur alleine. Sabine F. würde eine Hälfte von sich selbst verlieren.

Ihr Internist war ratlos. Er fand keine organischen Gründe für ihr Lungenleiden und überwies sie an Professor Gereon Heuft, der die Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie leitet. Für ihn war die neue Patientin kein Mysterium. Er suchte den Auslöser des Blutspuckens nämlich nicht in ihrem Körper, sondern in ihrem Kopf.

Somatisierung

► Bei der „Somatisierung eines neurotischen Konflikts“ leidet der Patient seit Jahren unbewusst unter einem neurotischen Kernkonflikt wie der Angst vor dem Alleinsein. Bis es einen Auslöser dieser Störung wie den Tod des Ehepartners gibt, kann der Patient den Konflikt kompensieren, sodass es noch zu keiner Störung kommt.

►Bei der „Somatisierung eines Aktualkonflikts“ tritt bei dem Patienten eine psychosomatische Störungen durch die Herausforderungen des körperlichen Altersprozesses auf, ohne dass er jemals zuvor unter psychischen Problemen gelitten hat. Je stabiler die Persönlichkeitsstruktur, desto kürzer die therapeutische Behandlung.

►  Bei der „Somatisierung infolge einer Trauma-Reaktivierung“ leidet der Patient im Alter unter Symptomen, die aus einem früheren Trauma resultieren. Hat er zum Beispiel schwerste Belastungen im Zweiten Weltkrieg erlebt und hatte seither das Gefühl, nie wieder hilflos sein zu wollen, könnte er bei akuten Herzproblemen die früheren Bedrohungen wie Bombenangriffe vor Augen haben. röv

„Zwischen 60 und 80 Jahren steigt die Einschränkung der eigenen Aktivität, und die Lebenszufriedenheit sinkt. In dieser Phase müssen die Menschen ihren Altersprozess verarbeiten. Und das ist eine sehr schwierige Aufgabe“, erklärte der Psychotherapeut. Wenn sie diese Entwicklungsstufe nicht bewältigen, können Ängste, Depressionen oder nicht erklärbare körperliche Beschwerden wie bei Sabine F. auftreten.

Der Patientin fällt es nicht leicht, über ihre Gefühle zu sprechen. Sie spricht langsam und wählt ihre Worte vorsichtig. „Natürlich habe ich Angst vor dem Tod. Mit dem eigenen Altern habe ich mich einigermaßen abgefunden. Ich habe eher Schwierigkeiten, dass mein Mann alt wird."

Dabei kann das Paar noch über philosophische Fragen diskutieren und sich an den Blumen im Garten erfreuen. Wenn ihr Mann aber für einen kurzen Moment traurig nach vorne blickt oder etwas vergisst, ist das mulmige Gefühl im Bauch seiner Ehefrau sofort da. Dann merkt sie, dass ihrem Mann das Altern weitaus schwerer fällt als ihr.

Für Professor Heuft ist das nicht ungewöhnlich. Frauen könnten zum einen besser mit dem Älterwerden umgehen, weil sie sich bereits während der Wechseljahre mit ihren biologischen Grenzen arrangieren müssen. Außerdem seien sie in einem festeren Beziehungsnetz verankert und würden im Falle des Todes ihres Mannes nicht so schnell vereinsamen. „Für Männer ist die Auseinandersetzung mit dem Altern wegen ihrer geringeren sozialen Kompetenz weitaus krisenhafter. Daher ist die Suizidrate bei Männern auch höher“, sagte Heuft.

Dazu käme das eigene Rollenverständnis der Männer. Das Gefühl, nicht mehr für sich und die Familie sorgen zu können, sei eine starke Kränkung. „Sie merken, wie sie ihre Autonomie nach und nach verlieren und wollen dann nur sehr ungern Hilfe annehmen“, erklärte der Experte. Daher treten Probleme im Alterungsprozess bei Männern akut und blitzartig auf. Sie neigen eher dazu, ihre Störung exzessiv auszuleben, indem sie sich aggressiv verhalten oder Süchte entwickeln.

Frauen hingegen würden sich mit ihren Ängsten lange unbewusst beschäftigen und sie in sich hineinfressen. Deswegen treten Depressionen und Essstörungen häufiger bei ihnen als bei Männern auf. Da sie sich über einen längeren Zeitraum mit der Sorge, allein zu sein, beschäftigen, sind ihre Symptome oft die Folge eines neurotischen Konflikts. Auch bei Sabine F. entwickelten sich die psychosomatischen Symptome schleichend.

Mittlerweile hat die Patientin einen Weg gefunden, ihr Inneres nach außen zu tragen: Sie sollte ihre Gefühle malen. Wenn Sabine F. über die Kunsttherapie erzählt, strahlen ihre Augen. „Es war, als wenn ich all meine Sorgen auf das Stück Papier abgeben kann und von Unrat befreit bin“, sagte sie. Dann hatte die Patientin vor Augen, was ihr eigentlich auf der Seele brennt: Die Angst vor dem Alleinsein und dem Tod. Von da an spuckte sie kaum noch Blut.

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