Psychologie der Rückkehr des Rafael van der Vaart

Der Heilsbringer ist zurzeit nicht in Hamburg. Er ist bei der niederländischen Nationalmannschaft und bereitet sich auf das Weltmeisterschafts-Qualifikationsspiel am Dienstag in Bukarest gegen Rumänien vor. Aber Rafael van der Vaart ist doch irgendwie allgegenwärtig bei seinem Verein, dem HSV, den er aus dem Dornröschenschlaf erweckt hat. Null Punkte ohne ihn, zehn Punkte mit ihm. Null Tore ohne ihn, neun Tore mit ihm. Abstiegsstimmung herrschte ohne ihn, aber mit ihm ist die Hoffnung auf eine gute Zukunft erwacht. "Rafael zeigt, dass er sich mit dem HSV identifiziert, dass er die Mannschaft weiterbringen und Vorbild sein will. Solche Spieler brauchen wir", lobt Trainer Thorsten Fink.

Doch wie konnte es dazu kommen, dass ein Einzelner für einen derartigen Umschwung sorgt? Jürgen Lohr, 54, ist Sportpsychologe in Hamburg. Er beschreibt die Mechanismen, die innerhalb der HSV-Bundesliga-Mannschaft in den vergangenen Wochen gegriffen haben. Demnach ist Veränderungsbereitschaft die Voraussetzung gewesen. "Durch die schlechte sportliche Situation Ende August und zahlreiche unfruchtbare Veränderungsversuche war diese Voraussetzung im Team und Verein wohl überwiegend gegeben", sagt Lohr. "Das heißt: Grundsätzlich war Rafael van der Vaart willkommen."

Arbeit unter Thomas Doll

Lohr hat eine spezielle Sicht auf den HSV. Der damalige Trainer Thomas Doll hat den Psychologen 2004 in seine Arbeit einbezogen, kurz darauf war van der Vaart erstmals zum HSV gewechselt. Wichtig sei, fährt Lohr fort, dass der "Veränderer" als solcher auch respektiert und anerkannt werde. "Da hat sicherlich die Art und Weise, mit der Rafael öffentlich und mannschaftsintern aufgetreten ist, eine entscheidende Rolle gespielt. Bescheidenes, zurückhaltendes Auftreten öffentlich und in der Kabine, sowie initiatives Auftreten auf dem Platz", analysiert Lohr.

Beim ersten Sieg gegen Borussia Dortmund (3:2) hatte van der Vaart gleich die besten Laufwerte der gesamten Mannschaft. Er hat also gezeigt, dass mit einfachen Mitteln, die jeder andere Spieler auch anwenden kann, Erfolg möglich ist. Trainer Fink schlägt in dieselbe Kerbe: "In der abgelaufenen, englischen Woche ist 'Rafa' wahrscheinlich so viel gelaufen wie sonst in seiner ganzen Karriere nicht. Das war eine Energieleistung. Das benötigen wir: Profis, die vom Spielerischen kommen, und dann fighten. Das sehen dann auch die jungen Spieler."

Wendepunkt gegen Dortmund

Fink gibt van der Vaart volle Rückendeckung. Auch dies, so Psychologe Lohr, ist ein Baustein des Aufschwungs. Jürgen Lohr sieht in dem 3:2 gegen Borussia Dortmund, dem ersten Heimspiel mit van der Vaart am 22. September, den Wendepunkt, insbesondere was die Geschwindigkeit der Veränderungen angeht. In dieser Partie hat van der Vaart den ersten Treffer durch Heung Min Son in der Anfangsphase vorbereitet, eine große Laufleistung erbracht, und im Übrigen zu 90 Prozent einfache Bälle gespielt.

Van der Vaart wurde anschließend von Fans und Medien gefeiert. "Aber er selbst feierte nach dem Spiel nicht sich, sondern den Torwart Rene Adler und die Mannschaft", hat Lohr erkannt. Und das wiederum habe einen ganz speziellen Effekt auf die Mitspieler. "Den Erfolg gegen den Deutschen Meister beziehen einige Spieler zu Recht auch auf sich und gewinnen mehr Selbstsicherheit. Mit dem Lob und der Anerkennung der Leistung, wir sprechen von positiver Verstärkung, durch Medien und ihr Umfeld wächst das Selbstvertrauen."

Wenige Wochen später, nach den beiden weiteren Siegen gegen Hannover 96 und bei Greuther Fürth sowie einem Unentschieden bei Borussia Mönchengladbach, ist der HSV auf dem achten Platz der Bundesliga-Tabelle angekommen. Sportchef Frank Arnesen bestätigt die Eindrücke des Psychologen. "Rafael hat einen unglaublichen Druck auf sich genommen", sagt der Däne. "Nach der schwierigen vergangenen Saison und dem schlechten Anfang der neuen hat er alles auf seine Schultern genommen. Er hat gekämpft und einen großen Anteil daran, dass wir auf dieses Niveau gekommen sind – vor allem mental."

Denn nicht nur van der Vaart selbst spielt gut, auch die Kollegen werden stärker. Gerade in der Partie bei Aufsteiger Fürth (1:0), aber auch schon über weite Strecken des Heimspiels gegen Hannover 96 (1:0), fehlte van der Vaart die Power der ersten Tage.

Adlers glänzende Paraden

Dafür stand die Verteidigung um Kapitän Heiko Westermann sicherer, Dennis Diekmeier und Tolgay Arslan stabilisierten sich auf höherem Niveau. Jürgen Lohr beschreibt die Entwicklung so: "Durch die teilweise spektakulären Wiederholungen des ersten Erfolgs in den darauf folgenden Spielen wurden die Teamentwicklungsprozesse stabiler und die neuen Fertigkeiten zuverlässiger verfügbar." Dazu kommt, um das "Phänomen van der Vaart" nicht zu sehr in himmlische Sphären abdriften zu lassen, dass es weitere Stabilisatoren gibt. Marcell Jansen auf der linken Seite, die neuen Mittelfeldspieler Petr Jiracek und Milan Badelj – und in erster Linie Keeper Rene Adler.

Ohne Adlers glänzende Paraden wäre ein Teil des Van-der-Vaart-Effekts verpufft. Doch auch der Torwart sieht die Rolle des Führungsspielers im Mittelfeld als herausstechend. "Was 'Rafa' uns gibt ist so unheimlich viel", schwärmt Adler. "Seine Persönlichkeit ist ganz wichtig. Als er gekommen ist, war der ganze Verein, die ganze Stadt sehr unruhig. Er hat einfach Hoffnung zurückgebracht." Und Adler lobt die fußballerischen Fähigkeiten des Niederländers. Er, Adler, habe selten einen Spieler gesehen, der solche genaue Pässe schlagen kann und über solch "feines linkes Füßchen" verfüge wie van der Vaart.

"Rafael ist auch nur ein Mensch"

Eine Garantie, dass der HSV auch in den kommenden Wochen und Monaten von Erfolg zu Erfolg eilt, gibt es dennoch nicht. Denn die Mannschaft, die sich jetzt in einer besseren Position findet als vor einigen Wochen, ist auch anderen Einflüssen und einer ständigen Entwicklung ausgesetzt. "Kein Gruppenmitglied bleibt lange ruhig, wenn es seinen Anteil am Erfolg nicht ausreichend gewürdigt und anerkannt sieht", sagt Jürgen Lohr. "Das gilt für alle Beteiligten im gesamten Verein."

Die Stabilität des HSV ist, allen Anfangserfolgen zum Trotz, also auch davon abhängig, wie van der Vaart sich in Zukunft verhält. "Diejenigen, die mit Anerkennung überschüttet werden, sind herausgefordert, bescheiden zu bleiben und gut damit umzugehen, wenn ihre Leistung zur Normalität erklärt wird", sagt Lohr. Bei aller Verherrlichung des Mannes mit der Rückennummer 23 beim HSV ist dabei ein Satz von Sportchef Arnesen ganz wichtig: "Rafael ist auch nur ein Mensch." Das heißt nichts anderes, als dass ein Führungsspieler und Vorbild wie er Fehler machen wird – und darf.

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