Psychologie : Das schützende Gefühl

Weil die meisten Krankheitserreger nicht mit dem bloßen Auge sichtbar sind, muss dieses „Immunsystem des Verhaltens“ indirekt arbeiten. Die einfachsten Regeln, wollte man Parasiten nicht begegnen, wären: Vermeide allzu engen Kontakt mit anderen Individuen derselben Art. Meide Tiere, die Parasiten tragen könnten oder selbst wie Parasiten aussehen. Meide Umgebungen und Gegenstände, auf denen Parasiten leben könnten. Ekel führt dazu, dass wir genau diese Regeln einhalten. Infizierte Wunden sind ekliger als trockene, eine volle U-Bahn ekliger als eine leere und ein Mann mit Fiebersymptomen ekliger als derselbe Mann ohne diese Zeichen.

Und noch etwas spricht für die Theorie vom schützenden Ekel: die „Kontaktregel“. Hatte ein Gegenstand Kontakt mit etwas, das Ekel auslöst, dann ist er selbst ekelerregend. Kaum jemand würde gerne eine Pizza essen, über die vorher eine Ratte gelaufen ist. „Instinktive Mikrobiologie“ nennt der Harvard-Psychologe Steven Pinker dieses Verhalten. Schließlich könnten durch den Kontakt tatsächlich Krankheitserreger übertragen werden. „Ekel ist eine sehr klebrige Emotion und das mit gutem Grund“, sagt Curtis. Sie haftet auch da, wo es keinen Sinn mehr ergibt. So würden die meisten Menschen keinen Saft trinken wollen, der mit einer Kakerlake umgerührt wurde, auch wenn diese vorher sterilisiert wurde. „Unsere Gehirne haben sich eben in einer Welt entwickelt, in der es keine Desinfektionsmittel gab“, sagt Curtis.

Diese evolutionsbiologische Sicht des Ekels ist neu. Viele Jahre herrschten in der Psychologie Theorien vor, die Ekel als kulturelles Phänomen erklärten. Die britische Anthropologin Mary Douglas etwa glaubte, dass Ekel dazu dient, Dinge abzulehnen, die nicht in das Weltbild einer Kultur passen, um so die soziale Ordnung nicht zu gefährden. Und Freud meinte, Ekel sei eine erlernte Reaktion und mit gezielter Erziehung könnte jede beliebige Aktivität zum Auslöser von Ekel gemacht werden. Studien haben aber gezeigt, dass die stärksten Auslöser von Ekel über zahlreiche Kulturen hinweg dieselben sind, etwa Kot, Leichen und Eiter. „Es ist ziemlich schwer zu lernen, sich vor Blumen oder Keksen zu ekeln“, sagt Curtis.

„Heute sind sich die meisten Wissenschaftler einig, dass Ekel in der Evolution entstanden ist, um Menschen vor Krankheitserregern zu schützen“, sagt der US-Psychologe Jonathan Haidt, zurzeit als Gastprofessor an der New York University. Er glaubt, dass es dabei zunächst um das Essen ging: Als die Vorfahren des Menschen begannen, sich von Aas zu ernähren, sei die Emotion entstanden. Sie habe den Urmenschen vor verdorbenem Fleisch geschützt. Später sei das Gefühl dann von bitteren Früchten und verdorbenem Fleisch übertragen worden in die Sphäre des Sozialen. Von oral zu Moral.

In einer Umfrage hat die Hygieneforscherin Curtis 77 Jugendliche in Großbritannien nach Verhalten gefragt, das sie moralisch anekelt. Dabei wurden etwa Vergewaltigung und Nekrophilie genannt, zwei Verhaltensweisen, die wegen des Austausches von Körperflüssigkeiten oder wegen des Umgangs mit Toten auch im Rahmen der Parasiten-Theorie des Ekels erklärbar sind. Aber unter den Top Ten fanden sich zum Beispiel auch Diskriminierung, Ausbeutung und Folter. Aber löst so ein Verhalten wirklich Ekel aus? Oder handelt es sich eher um eine Metapher, die wir nutzen, um unsere Ablehnung zu umschreiben?

Untersuchungen im Magnetresonanztomografen haben gezeigt, dass durch unmoralisches Verhalten zu einem Großteil die gleichen Gehirnareale aktiviert werden wie durch Ekel. Und ein unfaires Angebot in einem Spiel aktiviert dieselben Gesichtsmuskeln wie der Anblick ekelhafter Bilder. Wissenschaftler haben sogar zeigen können, dass Schuldgefühle wegen unmoralischen Verhaltens schwächer werden, wenn Versuchspersonen sich die Hände reinigen. Es ist also tatsächlich möglich, seine Hände in Unschuld zu waschen. Valerie Curtis glaubt, dass das Gehirn auf Anzeichen reagiert, dass ein anderer Mensch sich wie ein Parasit verhält, unfair eben. Solche Personen zu isolieren, weil sie als ekelhaft empfunden werden, sei eine starke Strafe für asoziales Verhalten. „Es ist gut, dass wir uns vor Dieben oder Vergewaltigern ekeln“, sagt Curtis. „Ekel ist ungeheuer wichtig gewesen für die Entstehung einer moralischen Gesellschaft.“

Der Schritt dürfte gar nicht so groß gewesen sein. Der Mensch ist ein soziales Tier und trifft ständig mit seinesgleichen zusammen. Um die nicht anzustecken, beachten wir Hygieneregeln. Macht man das nicht, wird man vermieden, ausgeschlossen, mit Ekel behandelt. „Es ist ein ähnliches Problem, wenn man einen sozialen Parasiten erkennt, jemanden, der einem zum Beispiel Zeit oder Ressourcen stiehlt“, sagt Curtis. „Es ist besser, so jemanden zu meiden, sich vor ihm zu ekeln, ihn als unmoralisch abzustempeln.“ So könnte Ekel von schlechten Manieren auf schlechte Moral übertragen worden sein.

Aber die Fähigkeit des Menschen, sich vor anderen Artgenossen zu ekeln, ist auch die dunkle Seite dieser Emotion. Immer wieder ist sie als Motivator für besonders unmoralisches Verhalten genutzt worden. Die Nazis bereiteten ihre Verbrechen vor, indem sie Juden als Ratten und Ungeziefer darstellten. Und auch im Vorfeld des Völkermordes in Ruanda verunglimpften Hutus Tutsis als Kakerlaken.

Menschen als ekelhaft abzustempeln, scheint eine mächtige Waffe zu sein. So haben Forscher Testpersonen Bilder von Geschäftsleuten, Studenten, Obdachlosen und Drogenabhängigen gezeigt. Die letzten beiden Gruppen aktivierten die typischen Ekel-Areale im Gehirn der Probanden. Gleichzeitig war der präfrontale Kortex weniger aktiv, ein Hirnareal, das besonders in sozialen Situationen eine wichtige Rolle spielt und mit dem Menschen über andere Menschen nachdenken anstatt über Gegenstände. Das deutet darauf hin, dass Ekel es leichter machen könnte, Menschen als Objekte zu behandeln. Der ehemalige Harvard-Psychologe Marc Hauser hat Ekel deshalb „die bösartigste aller Emotionen“ genannt.

Wie weit sollten wir unserer Igitt-Intuition also vertrauen? Ob bei der Diskussion um Stammzellen, das Klonen von Menschen oder Transplantate von Tieren, häufig argumentieren Gegner solcher Methoden auch mit Ekel. Der US-Bioethiker Leon Kass spricht gar von der „Weisheit des Ekels“. Die Emotion sei womöglich die letzte Stimme, die noch den Kern der Menschlichkeit verteidige, schreibt er und plädiert dafür, genau auf das Gefühl zu achten.

Andere Forscher sind vorsichtiger: „Ich glaube, Ekel sollte eine Rolle spielen, aber eine kleine“, sagt der Psychologe Haidt. Diskriminierung, etwa gegen Schwarze oder Schwule, sei stets auch durch Ekel untermauert worden. „Ich bin froh, dass sich die Gesellschaft in diesen Fällen nicht auf die vermeintliche Weisheit des Ekels verlassen hat.“ Andere Dinge, wie Geschlechtsverkehr mit Tieren, würden aber noch immer als eklig empfunden und das zu Recht, meint Haidt. „Ich glaube, wir müssen Ekel häufig überwinden, aber wir sollten ihn auch nicht außer Acht lassen.“

Und die Ekelforscherin Valerie Curtis sagt, dass Menschen sich des Einflusses von Ekel bewusst sein sollten. „Wir müssen den Ekel ins Tageslicht zerren“, sagt sie. „Das Wichtige ist, dass das nicht im Verborgenen geschieht.“

Ekel ist eine zwiespältige Emotion. Er schützt uns und kann uns schaden. Er hält uns fern von Parasiten und macht uns empfänglich für Propaganda. Ekel haftet. Auch an uns.

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