Psychologen-Mangel in Deutschland: Therapeut verzweifelt gesucht

Martin Kusslowksi* braucht sich nicht erst nach dem Wecker umzudrehen. Er weiß, dass er 4.30 Uhr anzeigt. In drei Stunden wird er klingeln. Bis dahin wird Kusslowksi wachliegen. Seine Gedanken werden im Kopf kreisen. Wie wird sein Chef die Präsentation finden, die er heute vorstellen muss? Hält er ihn für einen Versager? Wie sicher ist sein Arbeitsplatz?

Die Nächte sind für Kusslowksi zum Alptraum geworden. In dieser Zeit plagen den 35-jährigen Pressereferenten die Ängste besonders. Morgens verblassen sie zwar. Doch in der konkreten Situation kommen sie anfallartig wieder. Seit über einem Jahr steckt Kusslowksi in einem Teufelskreis: wachsende Erschöpfung, eine belastete Beziehung und neue Ängste - vor der Angst selbst, vor dem Wachliegen.

Yoga, Meditation, Sport, Johanniskraut, Schlaftabletten. Kusslowski hat schon vieles versucht, ohne Erfolg. Schließlich verschreibt ihm seine Hausärztin ein Anti-Depressivum und empfiehlt ihm, eine Verhaltenstherapie zu machen. Hoffnung auf baldige Hilfe macht sie ihm aber nicht. "Sie werden wahrscheinlich einige Zeit auf einen Therapieplatz warten müssen", sagt sie ihm.

Wie Kusslowksi geht es immer mehr Menschen. Nach Angaben des Berufsverbands der Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (BPM) leidet ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung in einem Jahr an mindestens einer psychischen Erkrankung. Das sind 16,5 Millionen Betroffene. In einem Gutachten spricht die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) von einer Volkskrankheit. Zu den häufigsten psychischen Krankheiten gehören Depressionen und Angststörungen.

Die Folgen sind gravierend: Nicht nur Lebensqualität, Leistungsfähigkeit und Lebenserwartung der Betroffenen sinken. Keine andere Erkrankung verursacht so viele Arbeitsausfälle - rund 40 Tage im Jahr sind Betroffene aufgrund psychischer Probleme krankgeschrieben.

Erst mal auf die Warteliste

Kusslowksi wendet sich zunächst an das Verhaltenstherapeutische Zentrum Falkenried. Das Vorzeigeinstitut in Hamburg expandiert, in den letzten zwei Jahren hat es zwei Ableger gegründet - so groß ist die Nachfrage. Rasch bekommt Kusslowski einen Termin für ein ausführliches Vorgespräch mit einer Therapeutin. Diese kann ihn aber lediglich auf die Warteliste für einen Therapieplatz setzen.

Die gesetzliche Krankenkasse zahlt eine Psychotherapie, wenn der Therapeut eine Approbation und eine Kassenzulassung besitzt und eine der zugelassenen Therapieformen anwendet. Zudem muss beim Patienten eine psychische Störung vorliegen, die in den Psychotherapie-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses aufgelistet ist.

Darunter fallen beispielsweise Depressionen, Angst- und Essstörungen. Nicht übernommen werden Partner- und Sexualtherapien sowie Coachings.

Die Regelungen der privaten Krankenkassen sind uneinheitlich. Meist übernehmen diese aber auch nur Therapien, die wissenschaftlich anerkannt sind. Aber oft zahlen sie nur Kurzzeittherapien.

Patienten können auch zu Therapeuten ohne Kassenzulassung gehen und laut Sozialgesetzbuch ihre Krankenkasse um Übernahme der Kosten bitten. Allerdings wird die Kasse Nachweise fordern, dass der Patient keine Therapie bei einem kassenzugelassenen Therapeuten in zumutbarer Zeit bekommt. Die Hürden sind von Kasse zu Kasse unterschiedlich hoch. Patienten sollten ihrer Kasse notfalls mit Klage drohen, raten Experten.

Betroffene sollten sich auch an Institute wenden, die Psychotherapeuten ausbilden. Dort haben sie womöglich die Chance, schneller einen Therapieplatz zu bekommen. Die Therapeuten in Ausbildung erhalten Supervision von erfahrenen Psychotherapeuten, sodass die Qualität der Behandlung gesichert ist.

Als Alternative bietet ihm die Psychologin eine Gruppentherapie an. Viele Menschen kostet es zwar Überwindung, vor einer Gruppe über ihre Probleme zu sprechen. Meist aber sind die Wartezeiten dafür kürzer. Und sie bietet noch weitere Vorteile: Betroffene sind unter ihresgleichen und sehen, dass sie mit dem Problem nicht alleine dastehen. Zudem empfiehlt die Therapeutin Selbsthilfegruppen und die Angebote psychosozialer Dienste, um die lange Wartezeit auf einen Therapieplatz zu überbrücken.

Solche Maßnahmen lösen aber den Kern des Problems nicht: Die rasant steigende Zahl der psychisch Kranken können die knapp 22.000 kassenärztlich zugelassenen Psychotherapeuten in Deutschland längst nicht mehr bedienen. Wie eine Studie der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV) ergab, warten Betroffene in Deutschland durchschnittlich 80 Tage auf einen Therapieplatz. Nur drei Prozent der Psychotherapeuten können sofort einen ersten Termin anbieten.

Eine völlig unzumutbare Situation für Patienten, meint die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). Sie fordert, das Behandlungsangebot auszubauen. "Patienten benötigen eine schnellere und evidenzbasierte Behandlung von psychischen Krankheiten", sagt BPtK-Präsident Rainer Richter. "Das Angebot kurzfristig nutzbarer psychotherapeutischer Sprechstunden muss verbessert werden. Kassenärztliche Bundesvereinigung und Krankenkassen sollten hierfür die Voraussetzungen schaffen."

Aber warum gibt es eigentlich zu wenige Therapeuten?

"Die Anzahl der Kassensitze für Psychotherapeuten ist durch die Bedarfsplanung der kassenärztlichen Vereinigungen begrenzt", sagt Dieter Best. Wie hoch der Bedarf an Psychotherapeuten in Deutschland ist, wurde allerdings 1999 das letzte Mal im Zuge des Psychotherapeutengesetzes festgelegt. "Diese Zahlen sind längst überholt und werden dem aktuellen Bedarf nicht mehr gerecht", kritisiert der Vorsitzende der DPtV. "Außerdem gab es schon damals eine krasse Unterversorgung."

Zu spüren bekommen das zum einen Betroffene auf dem Land, dort ist die Versorgung noch viel schlechter als in der Stadt. Auch Menschen aus sozial schwachen Schichten, die meist dringend eine Therapie benötigen, haben das Nachsehen. Sie haben ohnehin größere Hemmungen, sich an Psychotherapeuten zu wenden. Überwinden sie sich, müssen sie aber genauso lange warten wie Patienten mit weniger dringlichen Beschwerden.

Ansturm auf Kassenzulassungen

Seit Jahren sind die Kassenzulassungen für Psychotherapeuten in Deutschland belegt. Will ein junger Therapeut eine solche haben, muss er einem Kollegen die Praxis abkaufen, wenn dieser sie aufgibt. Das ist teuer, die Preise liegen im Schnitt bei 20.000 bis 50.000 Euro. Zudem sind die Chancen gering. "Auf einen Sitz bewerben sich etwa fünf bis zehn Therapeuten", sagt Best. Auch dies sind Gründe, warum manche Therapeuten eine Kassenzulassung erst gar nicht anstreben - sie haben auch so genügend Privatpatienten.

Das Ungleichgewicht von Therapieplätzen und Nachfrage führt mitunter auch dazu, dass es sich manche Therapeuten allzu angenehm machen und nur weniger aufwendige Fälle annehmen. Andererseits sind auch harte Fälle für Therapeuten extrem belastend. "Mehr als drei schafft man auch gar nicht", sagt eine Psychotherapeutin aus Hamburg.

Die Therapeutenvereinigung hofft, dass das neue GKV-Versorgungsstrukturgesetz, das seit Januar in Kraft ist, Besserung bringt. "Der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen wird darüber befinden, wie viele zusätzliche Therapeutensitze geschaffen werden", sagt Best. Eine Entscheidung darüber wird allerdings erst für Anfang 2013 erwartet. Experten gehen davon aus, dass bereits im nächsten Jahr etwa 2000 zusätzliche Sitze hinzukommen.

Ein Umstand macht deutlich, wie sehr Politiker die Dramatik des Problems bisher verkannt haben: Im Versorgungsstrukturgesetz war zunächst vorgesehen, dass Vorstände von Kassenärztlichen Vereinigungen Sitze verfallen lassen können, wenn ein Arzt oder Therapeut in Ruhestand geht. Der Ansatz aber sorgte für große Aufregung, Psychotherapeutenverbände fürchteten, dass sich die Lage so weiter verschärfen würde. "Das wurde jedoch abgewendet", sagt Best. Nun soll ein Zulassungsausschuss, paritätisch besetzt mit Krankenkassen und Therapeuten, über die Fortführung und Vergabe eines Sitzes entscheiden.

Kusslowksi hat bisher zehn Therapeuten angeschrieben. Von den meisten erhielt er keine Antwort, die restlichen sagten ihm ab. Bei seiner Krankenkasse fragte er nach, ob er auch eine Therapie bei einem Psychologen ohne Kassenzulassung erstattet bekäme. Das sei grundsätzlich nicht möglich, meinte die Kasse. Eine Prüfung der Kostenübernahme könne nur erfolgen, wenn er nachweise, dass er mindestens 15 Vertragstherapeuten angeschrieben habe. Zudem müsse er ein Attest seiner Ärztin vorlegen, die begründen solle, warum eine Wartezeit unzumutbar sei.

"Dass Krankenkassen Patienten solch hohe Hürden auferlegen, ist schlicht inakzeptabel", kritisiert Best. "Wenn jemand psychisch krank ist, hat er nicht die Kraft, auf eine langwierige Suche nach einem freien Therapieplatz zu gehen." Er rät Patienten, nach maximal fünf Absagen zu einem Therapeuten ohne Zulassung zu gehen, falls dies die Wartezeit verkürzt. Sollte die Kasse sich dann weigern, die Kosten zu übernehmen, empfiehlt Best, mit einer Klage zu drohen. "Nach meiner Erfahrung geben die Kassen immer nach, wenn die Patienten auf ihrem Recht bestehen."

Das bleibt Kusslowksi zum Glück erspart. Er hat eine Therapeutin gefunden - nach der zwölften Anfrage.

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