Psychogramm des Kapitän Schettino: Auf der Flucht vor der eigenen Unfähigkeit

Jederzeit Herr der Lage, moralisch überlegen, sich seiner Verantwortung für Schiff und Passagiere bewusst: Der Kapitäns-Mythos hat einen tiefen Kratzer, seit Kommandant Francesco Schettino sein Kreuzfahrtschiff in voller Fahrt auf ein Riff steuerte und das Leben von mehr als 4000 Menschen riskierte.

„Schettino hat sich wie ein großer Junge verhalten, der mit seinem Spielzeug prahlen wollte“, sagt Harald Euler, emeritierter Professor für evolutionäre Psychologie an der Universität Kassel. „Nur um seinem Oberkellner und einem ehemaligen Kapitänskollegen einen Gefallen zu tun – um den keiner ihn gebeten hatte – und um seine Passagiere zu beeindrucken, änderte er den vorgeschriebenen Kurs.“ Damit setzte er sein Schiff und das Leben von mehr als 4000 Menschen aufs Spiel. „Dieses Verhalten deutet auf hohe Risikobereitschaft, eine Neigung zur Egoinszenierung und zum Prahlen hin“, sagt Euler. „Wenn Menschen diese Charakterzüge aufweisen, ist auch wahrscheinlicher, dass sie bei unvorhergesehenen Folgen unangemessen reagieren.“

Die unvorhergesehene Folge war in diesem Fall die Havarie des Schiffes. Die unangemessene Reaktion war – zunächst – das Leugnen der Situation. Berichten zufolge hatte der erste Offizier dem Kapitän schon um 21.48 Uhr gemeldet, dass Wasser in den Maschinenraum gelaufen sei. Eine Viertelstunde später trugen die Passagiere bereits Rettungswesten, aber Schettino behauptete gegenüber dem Hafenkommandanten, an Bord gebe es nur einen Stromausfall. Das Schiff krängte in der Zwischenzeit immer stärker, noch um 22.30 funkte Schettino ein „Tutto okay“, erst um 22.58 Uhr war das Evakuierungssignal zu hören.

Illusion und Größenwahn

„Dieses Leugnen ist die logische Folge der Selbstüberschätzung Schettinos“, ordnet der Psychologe ein. „Es grenzt an eine größenwahnsinnige Illusion, sich selbst in dem Moment noch die Realität zurechtbiegen zu wollen, in dem das Schiff schon auf der Seite liegt und die Passagiere in Panik sind.“ Leugnen ist ein Muster, auf das der Unglückskapitän auch später noch zurückgreifen wird.

Um 01.42 Uhr telefoniert der Kapitän mit der Hafenmeisterei, aus dem Telefonat geht hervor, dass er das Schiff bereits verlassen hat: „Wir können nicht mehr an Bord des Schiffs gehen, weil es zur Heckseite kippt“, sagte Schettino. Der Offizier fragte überrascht: „Kommandant, haben Sie das Schiff verlassen?“ Der Kapitän darauf: „Nein, nein, natürlich nicht!“ – Da war es wieder, das Leugnen. Augenzeugenberichten zufolge hatte Schettino sein Schiff schon rund eine Stunde zuvor verlassen.

Sich die Realität zurechtzubiegen ist zutiefst menschlich. „Mehr als 90 Prozent aller Menschen sehen sich in einem positiven Licht, das ist der sogenannte Lake-Wobegon-Effekt“, erklärt Psycholge Euler. „Fast jeder hält sich für einen überdurchschnittlich guten Autofahrer, einen überdurchschnittlich guten Liebhaber, für überdurchschnittlich lebenstauglich. Diese Selbstüberhöhung hat einen Zweck: Menschen können Probleme besser angehen, wenn sie von sich und ihrem Einfluss überzeugt sind.“

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