Weil der psychische Zustand der Deutschen schlechter wird, fordern Psychologen mehr Einfluss auf das Gesundheitssystem und im Erwerbsleben
Laut einer gerade erschienenen Bestandsaufnahme des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) ist es um die psychische Gesundheit der Deutschen nicht gut bestellt. Nach Ansicht der Psychologen und Therapeuten fehlt es an professioneller Betreuung und "psychischen Belastungsgrenzwerten".
Jeder dritte Erwachsene in Deutschland litt irgendwann im Jahr 2010/2011 an einer psychischen Störung. Etwa jeder zehnte Erwachsene hatte in diesem Zeitraum zeitweise oder dauerhaft eine Depression. Das jedenfalls hat ein Team um den Psychologen Hans-Ulrich Wittchen von der Technischen Universität Dresden im Auftrag des Robert-Koch-Instituts herausgefunden. Im Rahmen der repräsentativen Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS) wurden 5 300 Deutsche über ihre seelische und körperliche Gesundheit befragt.
Am häufigsten sind Depressionen und Angststörungen, gefolgt von Suchterkrankungen. Seit dem letzten Gesundheitssurvey im Jahr 1998 haben sich psychische Störungen noch einmal weiter verbreitet. Dabei sind die Deutschen laut Hans-Ulrich Wittchen im internationalen Vergleich nicht einmal besonders krank: In der EU liegt die durchschnittliche Prävalenz bei 38,2 Prozent.
Aber die Forscher fanden noch etwas anderes heraus: Nur jeder dritte Betroffene hatte wegen seiner Störung Kontakt zum "Behandlungssystem", sprich zu Ärzten oder Therapeuten. Als ein solcher Kontakt galten auch Besuche beim Hausarzt, was bedeutet, dass wahrscheinlich die wenigstens Betroffenen von ausgebildeten Psychologen behandelt werden. Für die DGES-Autoren ist das "eine erschreckend geringen Behandlungsrate". Unentdeckte und daher unbehandelte Störungen würden oft chronisch:
Psychische Störungen beginnen überwiegend bereits vor dem 18. Lebensjahr und schränken unbehandelt die Lebensqualität über Zeiträume bis zu Jahrzehnten deutlich ein. Bei mehr als einem Drittel der Betroffenen münden die psychischen Störungen, wenn sie nicht frühzeitig behandelt werden, in einen langjährigen chronischen Verlauf mit vielfältigen Komplikationen.
Das ist nicht nur für die Betroffenen schlimm, sondern auch ein biopolitisches Problem. Aus der Perspektive eines ökonomisch kalkulierenden Nationalstaats betrachtet muss die wachsende Verbreitung psychischer Störungen beunruhigen, weil die Produktivitätseinbußen immens sind.
"Jeder dritte Betroffene hatte in der Befragung angegeben, in den vergangenen vier Wochen drei bis vier Tage auf Grund der psychischen Störung krankgeschrieben gewesen zu sein", heißt es in der DGES-Studie. Sie sind mittlerweile für die meisten Fehltage von Beschäftigten verantwortlich, und dieser Anteil steigt weiter. Chronische psychische Krankheiten sind außerdem der häufigste Grund für das Ausscheiden vor dem Rentenalter (bei 36 Prozent der Frauen und 25 Prozent der Männer).
Chronische Krankheiten, als psychische Störungen betrachtet
Dabei geben solche Zahlen nicht einmal das ganze Elend wieder. Darauf weist der Berufsverband der Psychologen nun mit einer umfassenden Bestandsaufnahme hin, die heute veröffentlicht wurde. Die Autoren zeigen darin, dass nicht nur psychische Störungen im engeren Sinn (wie Depressionen) enorm zugenommen haben, sondern auch "somatoforme" Krankheiten. Bei ihnen können Mediziner keine pathologischen Prozess feststellen. In der Praxis werden Erkrankungen durch pharmazeutische und diagnostische Interventionen "bearbeitet", die oft kaum mehr als rituellen Wert haben.
Grundsätzlich haben alle Volkskrankheiten - unter anderem Diabetes, Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen - einen wichtigen seelischen Aspekt. "Bis zu einem Drittel der chronisch Kranken" hätten eine psychische Störung, so die Experten des BDP. Die Psyche ist an Entstehung, Ausprägung und eventuell dem Chronisch-Werden der Krankheit beteiligt. Dass die psychischen Aspekte der häufigsten nicht-ansteckenden Krankheiten vernachlässigt würden, sei fatal. Sie mindern nämlich nicht nur die Lebensqualität, sondern behindern auch die Genesung.
Beispiel Rückenschmerzen: In über achtzig Prozent der Fälle sind sie unspezifisch. Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass diese Schmerzen eingebildet wären. Tatsächlich haben nicht spezifische Rückenschmerzen eine körperliche Ebene und tun unter Umständen höllisch weh. Aber sie haben eben auch eine psychische Ebene, die mit dem Erleben und den Einstellungen der Leidenden zu tun hat. Aus ihrem Schmerzerleben leiten viele Patienten unglücklicherweise ab, dass sie Bewegung, Belastung und Aktivität vermeiden müssten. Eine solche ängstliche Vermeidungshaltung kann dann zu sozialem Rückzug und Fehlhaltungen führen, durch die die Rückenschmerzen chronisch werden. Für den Schmerzexperten Michael Pfingsten ist in solchen Fällen eine rein somatische Behandlung sogar kontraproduktiv:
Die Laientheorien der Patienten werden im medizinischen Versorgungssystem oftmals unterstützt, indem vermittelt wird, dass Heilung durch passive Maßnahmen, Spritzen und Krankschreibung erreichbar sei. Der Diagnostik nicht spezifischer struktureller Veränderungen in bildgebenden Verfahren wird zu große Bedeutung beigemessen. Frühes und wiederholtes Röntgen, häufige Injektionen und wiederholte chirotherapeutische Manipulationen, Verordnung passiver physikalischer Maßnahmen, Anweisungen zur Schonung und Belastungsvermeidung sowie lang anhaltende medikamentöse Behandlung verstärken das Krankheitsgefühl.
Die "Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz" rät bei nicht spezifischen Rückenschmerzen deshalb ausdrücklich von unnötigen diagnostischen Verfahren ab, weil diese keine Konsequenzen für die Behandlung hätten, andererseits beim Patienten die Fixierung auf die körperlichen Aspekte seines Leidens verstärkten.
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Psychosoma oder Somapsyche?
Das seit Descartes beliebte Spiel "Körper oder Geist, Objekt oder Subjekt?" wird niemals langweilig. Zu den Spielregeln gehört, dass der Körper mit Unfreiheit assoziiert wird, während die Gedanken angeblich frei sein sollen. Das entspricht zwar der Arbeitsteilung in den modernen Gesundheitssystemen, die streng zwischen seelischer und körperlicher Behandlung zu trennen meinen. Tatsächlich aber ist jede Krankheit Ausdruck von beidem. Soma und Psyche greifen ineinander
Mediziner müssten das eigentlich aus der Forschung ebenso sehr wie aus der Praxis wissen. Eine Depression beispielsweise verdoppelt nach manchen Epidemiologen sowohl das Risiko, eine koronaren Herzerkrankung zu entwickeln, als auch das Risiko, an ihr zu sterben. Ob Krebskranke verzweifeln und sich aufgeben oder nicht, entscheidet über Erfolg oder Misserfolg der Therapie.
Die Studie des BDP ist nicht zuletzt wissenschaftlich fundierte Öffentlichkeitsarbeit, mit der die Psychologen ihren Einfluss sichern und vergrößern wollen. "Wir haben die Rezepte", sagte die Vorsitzende Sabine Siegl bei der Vorstellung des Berichts in Berlin. Insofern der Verlauf jeder nicht-ansteckender Krankheit auch vom Verhalten des Erkrankten abhängt, könnten die Psychologen helfen. Der BDP empfiehlt, Patientenschulungen psychologisch anzureichern, die "Achtsamkeit" und Krankheitsakzeptanz der Patienten müsse gefördert werden, "dysfunktionale Coping-Strategien" verhindert werden.
Die Wirksamkeit von Gesprächstherapien und auch Psychoanalysen ist belegbar und kann mit vielen Interventionen der "Substanz- und Gerätemedizin" mithalten. Das allerdings bedeutet nur, dass psychologische Interventionen den meisten helfen, aber längst nicht allen und nicht umfassend. Je nach Krankheitsbild bessert sich der Zustand von Patienten laut Franz Caspar, Psychologie-Professor der Universität Bern, bei etwa zwei Dritteln der Fälle. Bei einer Minderheit verschlechtert sich der Zustand. Gerade Depressionen kehren trotz therapeutische Intervention häufig wieder. Auch bei der "psychischen Komorbidität" (Störungen von chronisch Kranken) ist die Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlungen beschränkt, bei schweren Herzkreislauferkrankungen liegt sie angeblich kaum über einem Placebo.
Woher kommt die Zunahme der psychischen Krankheiten?
Die Zahl der Psychotherapeuten in Deutschland ist im letzten Jahrzehnt deutlich gestiegen, nämlich zwischen 2000 und 2009 von 13 500 auf 16 500. Etwa fünf Prozent der Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für den ambulanten Bereich fließen mittlerweile für Therapien. Für psychische und Verhaltensstörungen insgesamt (also samt der teuren stationären Unterbringung) sind es etwa 15 Prozent. Betroffen sind angeblich über 15 Millionen Erwachsene in Deutschland (PDF) - aber nur 400 000 Menschen finanzieren die Gesetzlichen Krankenkassen eine Therapie.
Der BDP-Bericht und die DGES-Studie, die bereits im Juni veröffentlicht wurde, bestätigen einmal mehr den Trend: Die psychische Gesundheit der Deutschen wird immer schlechter beziehungsweise sie werden zunehmend professionell vom Gesundheitssystem behandelt. Wahrscheinlich ist beides der Fall: Sowohl Störungen als auch ihre Diagnosen nehmen zu! Die Ursache dafür sind vielfach: die Bemühungen der therapeutischen Psychologie, ihren Einfluss auszuweiten, die zendentielle Enttabuisierung von seelischem Leid, die zunehmenden Belastungen der Menschen, vor allem im Beruf, und nicht zuletzt die Ausweitung dessen, was unter "Krankheit" eigentlich verstanden wird.
Die therapeutischen Psychologie bemüht sich, sich zu professionalisieren, um ihren Platz in den Versorgungssystemen auszubauen. Die wiederholten Neuauflagen des einflussreichen amerikanischen Diagnostic and Statistical of Mental Disorders (DSM) zeigen, wie immer mehr Verhaltensweisen "Krankheitswert" zugeschrieben wird. Die Ausweitung wurde bewusst eingeplant, weil die Psychologen von einer massiven Unterversorgung ausgehen. Sie konnte aber nur erfolgreich sein, weil sie Bedürfnissen der Patienten entgegen kommt.
Dieser ausgedehnte Krankheitsbegriff ist in einigen Fällen fragwürdig. Das Diagnoseprinzip des DSM ist die Addition von Symptomen, deren Zusammenhänge (erst einmal) nicht interessieren. Das Handbuch listet beispielsweise auf:
Gefühle der Niedergeschlagenheit, Interessenverlust, Freudlosigkeit, Antriebsarmut, Hoffnungslosigkeit, Unlust, Selbstzweifel, Selbstabwertung, Schlafstörungen, Appetitverlust, keine Lust auf Sex, Gewichtsabnahme, Konzentrationsprobleme, Arbeitsstörungen, Morgentief mit Tagesschwankungen des Befindens, Selbstmordideen ...
Sofern fünf dieser Symptome länger zwei Wochen ununterbrochen anhalten, handelt es sich um eine "schwere Depression". Die Aussagekraft solcher Diagnosen mag zwar gering scheinen, aber sie sind intersubjektiv replizierbar. Aber sind nach einem schmerzhaften persönlichen Erlebnis - nach einem Todesfall eines Freundes beispielsweise oder nach einer Trennung - zwei Wochen, in denen man schlecht schläft, keine Lust auf Sex und Essen hat und sich niedergeschlagen und hoffnungslos fühlt, wirklich krankhaft? Und wenn man den Begriff anwenden will, ist eine solche "Depression" behandlungsbedürftig?
Die Zunahme der Fallzahlen hat aber auch damit zu tun, dass psychische Krankheiten in vielen Milieus der Bevölkerung nicht mehr verschämt verschwiegen werden. Stattdessen bekennen sich Teile der Mittel- und Oberschicht mittlerweile selbstbewusst zu ihrem Therapiebedarf. Frank Jacobi von der Psychologischen Hochschule Berlin schreibt dazu:
Wir können in letzter Zeit eine zunehmende Entstigmatisierung psychischer Probleme konstatieren: Betroffene stellen sich häufiger als früher mit ihren psychischen Symptomen im Gesundheitssystem vor, und entsprechende Diagnosen werden heute häufiger gestellt als früher. In vielen Fällen wurden zum Beispiel in der Vergangenheit bei Rückenschmerzen muskuloskelettale Erkrankungen als "Stellvertreterdiagnosen" für eine Krankschreibung eingesetzt.
Neben dieser Enttabuisierung ist laut den BDP-Autoren ein wichtiger Faktor, dass sich die Erwerbsarbeit verändert hat. "Psychomentale, emotionale und kommunikative Anforderungen" würden immer größer, schreibt Jacobi:
Personen mit psychischen Vulnerabilitäten oder manifesten Störungen wären früher, als eher körperliche Tätigkeiten im Mittelpunkt standen, noch leichter beruflich unauffällig geblieben, als dies heutzutage der Fall ist.
Auch die BDP-Expertin Julia Scharnhorst beschreibt eine extreme Verdichtung und eine Zunahme von Fehlbelastungen und Überforderungen. Prekarisierung und Service-Orientierung überforderten aber viele Beschäftigte.
Was tun gegen Burnout?
Die regelrechte Flut von Burnout-Diagnosen macht das deutlich. Das DGES ermittelte, dass im Zeitraum 2010 / 2011 vier Prozent der Befragten von ihren Ärzten als "ausgebrannt" erklärt wurden. Die Diagnose verbreitete sich mit kaum glaublicher Geschwindigkeit. Die Bundespsychotherapeutenkammer berichtete (PDF) dieses Jahr, "dass die Anzahl der Krankschreibungen aufgrund eines Burnouts seit 2004 um 700 Prozent, die Anzahl der betrieblichen Fehltage sogar um fast 1400 Prozent gestiegen ist".
Nun ist Burnout keine anerkannte psychische Störung und wird von den Kassenärzten nur nebenbei erfasst. Das Gefühl von Erschöpfung, Frustration und Vergeblichkeit gilt weiterhin - aber warum eigentlich? - als Problem ohne Krankheitswert. Hier fordert der BDP eine umfassende Reform des Arbeitsschutzes. Unternehmer sollten ihre Mitarbeiter im Stress- und Zeitmanagement schulen. Der Gesetzgeber müsse aktiv werden und den Arbeitsschutz im psychologischen Sinn reformieren. Julia Scharnhorst vom BDP-Vorstand fordert "Grenzwertforschung", um herauszufinden, welche psychischen Belastungen noch zumutbar seien. Auf jeden Betriebsarzt solle ein Betriebspsychologe kommen.