„Priester zu sein, ist eine Entscheidung fürs Leben“ – tt.com

„Können Priester fliegen?“ – und wie kommt man darauf, ein Buch zum Thema Wunderglauben zu schreiben?

Adolf Holl: Der Gedanke, dass die Welt als solches ein Wunder sein kann, war schon in der griechischen Antike verankert.

Seither sind uns allerdings dank Naturwissenschaften und Aufklärung einige Wunder abhandengekommen.

Holl: Heute müssen sich sowohl Natur- als auch Geisteswissenschafter in der akademischen Tätigkeit als agnostisch darstellen. Wenn du dich als Wundergläubiger auf die Bühne stellst, präsentierst du dich als gestrig. Aber es regen sich auch in unserer technisch-industriell und ökonomisch-kapitalistisch programmierten Zeit Bedürfnisse nach freundlich-überraschten Gedanken über den Glauben.

Und Sie stillen diese Bedürfnisse, indem Sie über die Levitationen des Padre Pio schreiben?

Holl: Auf Padre Pio reite ich ja nur deshalb so herum, weil er ein gutes Beispiel für diese Gleichzeitigkeit ist: Die italienische Gesellschaft ist natürlich eine industrialisierte. Aber am Rückspiegel jedes zweiten Taxis baumelt Padre Pio. Als Kulturphilosoph interessiert mich, dass wir nicht nur ein Wachbewusstsein dafür haben, wie man ein Handy bedient, sondern gleichzeitig in sehr alte Mentalitäten hinuntersteigen können. Da steht die so genannte Aufklärung ein bisschen belämmert da.

Soeben ist auch jenes Werk als Taschenbuch neu herausgekommen, mit dem alles begonnen und das Ihr Leben auf den Kopf gestellt hat: „Jesus in schlechter Gesellschaft“. Warum die Neuauflage des Klassikers?

Holl: Dem Haymon-Verlag schien, dass das Buch wieder gut in die Zeit passt. In den 40 Jahren seit dem Erscheinen des Buches gab und gibt es immer wieder Ansätze von „Wir sind Kirche“ bis hin zur Pfarrer-Ini­tiative, aber der offenbar vorhandene Handlungsbedarf wurde nicht erfüllt.

Sie haben mit diesem Buch an den Grundfesten der Kirche gerüttelt, u. a. indem Sie nicht nur die Priesterkirche als solche, sondern auch die Göttlichkeit Jesu und die Universalität der römisch-katholischen Kirche in Frage stellen.

Holl: Jawohl.

Es kann Sie nicht gewundert haben, dass die Kirche darüber nicht hinwegsehen konnte.

Holl: Nein, gewundert nicht. Im Studium der Politik- und Sozialwissenschaft habe ich ja gelernt, wie sich Institutionen benehmen müssen, um ihr Überleben zu sichern. Die haben nicht die Wahl, lieb und nachsichtig zu sein, weil sie damit ihre eigene Existenz in Frage stellten. Kardinal König hat das Messelesen als politischen Herrschaftsakt gesehen. Ich hingegen betrachte die Auseinandersetzung mit der Institution Kirche als spielerisch. Ich wetze meinen Schnabel und sage, was ich mir denke – ausgehend von der Grundannahme, dass Erkenntnis und Fortschritt durch Enttäuschung passieren.

Was Sie Ihre ursprüngliche Existenz gekostet hat.

Holl: Ja. Der springende Punkt für mich ist: Aufgrund meiner Maßregelung habe ich keine institutionelle Berechtigung mehr, etwas zu vertreten.

Aber auch keine Verpflichtung mehr.

Holl: Genau! Ich bin, wenn man dieses Wort strapazieren will, frei – frei zu sagen, was ich denke. Ich erfülle damit eine Funktion. Und ich beobachte zunehmend, dass praktizierende Katholiken das gutheißen und zu meinem Buch greifen, um darin zu lesen, dass Jesus ein sozialer Außenseiter war, ein Anarchist.

Waren Sie selbst auch immer schon so ein „heiliger Anarchist“?

Holl: Ich bin ohne Vater, aber mit meiner Mutter und einer Ziehgroßmutter aufgewachsen. Diese Frau Walch war eine sozialdemokratische Freidenkerin, die starb, als ich elf Jahre alt war. Die arme Frau hätte der Schlag getroffen, wenn ich ihr gesagt hätte, dass ich Priester werden wollte! Sie hat mich verwöhnt und auch ein bissl verzogen, aber in einem Punkt war sie gnadenlos: Zu lügen war das Widerwärtigste, was sie sich vorstellen konnte. Das hat sie mir rigoros anerzogen, dagegen hatte auch Kardinal König keine Chance. Ein für mich sehr wichtiges Zitat stammt von Dostojewski aus dem „Großinquisitor“.

Die Erzählung in den „Brüdern Karamasow“, in der Jesus in einen Inquisitionsprozess hineinplatzt?

Holl: Jawohl. Der Großinquisitor sagt nicht: „Wir werden lügen“, sondern: „Wir werden gezwungen sein, zu lügen.“ Das ist für mich die Kurzfassung für das Dilemma aller Funktionäre, ob kirchlich oder politisch. Die gesamte öffentliche Hand ist verlogen. Das erlaube ich mir in aller Ruhe zu sagen.

Was ist Ihnen heilig?

Holl: Die Christus-Gestalt, natürlich. Sie ist nach wie vor meine . . . jetzt hätte ich fast gesagt: Begleitperson. Ich kann mir nicht vorstellen, Tag für Tag sinnvoll ohne die Hinwendung zur Christus-Gestalt zu leben.

Warum sagen Sie „Christus-Gestalt“?

Holl: Weil ich mich ungern anschwindeln lasse. Das war wahrscheinlich der Grund für „Jesus in schlechter Gesellschaft“: Man hat mir erzählt, ich sei ein katholischer Priester im Sinne von Jesus Christus, und auf einmal stellt sich im Zuge von Forschungen katholischer Kollegen heraus, dass das so nicht der Fall ist. Warum also soll ich sagen, er sei ein Gott oder ein Halb- oder ein Viertelgott oder gar kein Gott? Die Christus-Gestalt hat Eingang in mein Seelenleben, in meine Identität gefunden und ich denke: Nicht nur ich brauche die Gestalt Christi, um erlöst zu werden, sondern er braucht auch mich ganz dringend, um mich zu erlösen.

Wovon?

Holl: Von der Bedrängnis des Lebens, wie es der Kärntner Autor Engelbert Obernosterer so schön formuliert hat.

Die Frage, ob Jesus Mensch oder Gott war, ist letztlich eine für Theologen. In der lebenspraktischen Konsequenz, die es haben müsste, sich „Christ“ zu nennen, ist sie unerheblich.

Holl: Da haben Sie vollkommen Recht. Das sind Diskussionsthemen aus dem vierten, fünften Jahrhundert, als die ehrwürdigen Väter über die Göttlichkeit Jesu abstimmten. Zwei Drittel waren dafür, also war er’s. Darüber muss man heute lachen.

Warum sind Sie Priester geworden?

Holl: Es ist sehr einfach: Ich wurde mit 14 Jahren im Rahmen der Kinderlandverschickung ins Mühlviertel gebracht. Ich war heimwehgeplagt und gelangweilt, ein Priester fragte mich, ob ich nicht ministrieren lernen wolle. Kaum hatte ich den roten Kittel an und hörte den Priester am Altar geheimnisvoll auf Latein flüstern, entstand in mir das Bedürfnis nach Mimesis.

Sie wollten das auch.

Holl: Und wie! Ein paar Worte zu flüstern und schon wird aus den Hostienscheibchen Gott – das ist das Wunder aller Wunder. Ich wollte machen dürfen, was der Herr Hochwürden tat. Und ich will es, würde ich fast sagen, bis heute.

Sie haben das Priestersein nie abgelegt?

Holl: Vorsichtig gesagt: Gelegentlich träume ich davon. Dann stehe ich am Altar, sage „In nomine patris et filii . . .“ und wache glücklich auf. Und unlängst habe ich in Aquileia in einer Kapelle eigentlich zufällig den Altar berührt. Da hatte ich eine starke Reaktion. Ich kann gar nicht sagen, was mir durch den Kopf gegangen ist, aber klar war: Der Altar und ich gehören auf irgendeine vertrackte, vielleicht atavistische und keineswegs unproblematische Weise zusammen.

Sie leiden an einer Art Phantomschmerz über das, was Sie verloren haben?

Holl: So kann man das durchaus nennen. Als ich meiner Mutter sagte, ich dächte daran, Priester zu werden, haben wir beide geweint. Sie hat gesagt: „Das ist eine Entscheidung fürs Leben.“ Und sie hatte Recht – aber jenseits irgendwelcher Dogmatiken.

In „Jesus in schlechter Gesellschaft“ zitieren Sie Wittgenstein: „Wir fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ Ist das die Ursache für das Entstehen jeglicher Religion?

Holl: Das ist eine ordentlich steile Frage – an den Ursprüngen der Religion arbeitet sich die Religionstheorie seit 150 Jahren ab! Ich kann nur aus meiner Erfahrung sprechen. In den vergangenen 40 Jahren habe ich gelernt, dass ich mich mit meinen innersten Widersprüchen produktiv auseinandersetzen muss.

Welche Widersprüche?

Holl: Die Frage nach dem Sinn des Lebens und Sterbens, die Geschlechterfrage . . . darüber können wir bis zehn Minuten nach der Ewigkeit reden! Aber nur hasserfüllt und empört zu sein, bringt nichts, man muss kreativ und entspannt sein, es muss sich sogar eine gewisse Heiterkeit einschleichen. Dann schaut etwas dabei heraus.

Und wo kommt die Religion ins Bild?

Holl: Ich habe Grund anzunehmen, dass wir diese Bedrängnis des Lebens spüren, seit wir von den Bäumen heruntergestiegen sind. Auf der Schwäbischen Alb wurde eine Tausende Jahre alte Elfenbeinschnitzerei gefunden: ein Strichmännchen mit erhobenen Händen, ein Neandertaler wohl, der die Welt auf sich aufmerksam machen will. Wir sind neurologisch offenbar so verkabelt, dass wir dieses Bedürfnis haben.

„Jesus in schlechter Gesellschaft“ ist ein Welterfolg und wurde damals als Bedrohung empfunden. 40 Jahre danach diskutieren wir in Österreich, ob ein schwul lebender Mann Pfarrgemeinderat sein kann.

Holl: Österreichs Kirchensituation ist für mich keine besonders erfreuliche. Andererseits nehme ich mit Genugtuung wahr, dass es Menschen gibt, die ein Hirn haben und es nicht an der Garderobe abgeben.

Mein Eindruck ist: Die Kirche bindet so viel Energie an derartigen Nebenschauplätzen, dass ihr die Kraft für echte Zukunftsperspektiven fehlt.

Holl: Der erste Offizier stürzt in die Kapitänskajüte und schreit: „Wir sinken!“ Darauf der Kapitän: „Und schon wieder ist die Tischlampe nicht geputzt!“ Das lernt man im ersten Semester Organisationspsychologie: Organisationen haben nur den einen Zweck, sich zu verewigen. Wenn das schwer und schwerer wird, betreibt man systematisch Realitätsverweigerung.

Sie werden im Mai 82 Jahre alt und Ihr Leben ist wohl ganz anders verlaufen, als Sie es sich als junger Mann vorgestellt hatten. Hätten Sie auch ganz anders können?

Holl: Das weiß ich nicht. Mein zweiter Berufswunsch als Jugendlicher war jedenfalls Journalist.

Letztlich hatten bzw. haben Sie beides.

Holl: Ja. Und es war ein schönes Leben.

Haben Sie irgendwann Frieden mit Ihrer Kirche machen können?

Holl: Ja und nein. Mit einzelnen Vertretern, angefangen bei Kardinal Schönborn, habe ich eine gar nicht so schlechte Gesprächsbasis, wir hatten zu meinem 75. Geburtstag eine nette Plauderei über Padre Pio. Und ich werde von diversen Pfarren zu Vorträgen eingeladen. Insofern führe ich eine ganz passable Randexistenz.

Wenn Kardinal Schönborn Ihnen heute sagte, dass Ihre Suspendierung aufgehoben sei . . .

Holl: . . . würde ich sagen: „Wunderbar, ich kenne eine Pfarre, die wäre froh, wenn ich einmal im Monat eine Abendmesse mit Predigt zelebrierte.“ Die Kirche wäre wahrscheinlich voll, das Fernsehen käme. Aber das wär’s dann auch. An meiner sonstigen Existenz würde sich nicht das Geringste ändern.

Ein letztes Zitat aus einem anderen Ihrer Bücher, nämlich „Wie gründe ich eine Religion“: „Die Frage, ob ich an Gott glaube, setzt mich in Verlegenheit. Ich weiß es nicht.“ Denken Sie, der Papst glaubt an Gott?

Holl: Wenn Sie ihn anriefen und fragten . . .

Das wollte ich, er geht nicht dran. Darum probiere ich es bei Ihnen.

Holl: Wäre ich der Papst, würde ich keine Sekunde zögern zu sagen: „Selbstverständlich!“

No na.

Holl: Im Ernst gesagt: Ich vermute, dass du – egal ob in Kirche, Politik oder Wirtschaft – überhaupt nur Karriere machen kannst, wenn du eine feste Überzeugung hast. Sonst gehst du mental flöten. Die wirklichen Zyniker sitzen in den Vorzimmern der Macht.

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