Priester am Ende ihrer Kräfte

Die Verzweifelten sitzen hinten. In den letzten Reihen der kleinen Kirche, im Halbdunkel; die kleinen Fenster lassen nur wenig Licht herein. Es ist ein karger Raum, es gibt keinen Weihrauch hier, keine Wandmalereien, keine Reliquien, kein Pomp, nur ein Holzkreuz, das den Altarraum überragt. Die Verzweifelten tragen Strickpullover und Westen. Sie tragen keine Talare mehr, keine Gewänder. Bis vor Kurzem waren sie Priester, Nonnen und Mönche. Was sie jetzt sind, wissen viele von ihnen nicht genau, zumindest im Moment nicht.

Die Mittagsandacht ist fast vorüber, als die Orgel verstummt und ein Mönch des Benediktinerordens aus dem Altarraum ans Pult tritt. Der bärtige Mann liest Vers 17, Psalm 25: "Die Enge meines Herzens mache weit, und führe mich heraus aus meinen Bedrängnissen." Dieser Vers ist häufiger zu hören in den Andachten hier. Er passt zu den Gästen in den letzten Reihen. Sie rufen im Chor "Amen".

Sie sind hierher, in das Kloster Münsterschwarzach bei Würzburg gekommen, weil sie in einer Krise stecken. Sie haben als Geistliche ihr ganzes Berufsleben damit verbracht, anderen zu helfen, und nun wissen sie selbst nicht mehr weiter. Sie können keinen Trost mehr spenden, weil sie selbst welchen brauchen.

So wie Hans-Joachim Wahl, der Priester, der sich selbst verloren hat, weil er ständig für andere da war.

So wie Matthias Woll, der Mönch, der sich nicht entscheiden konnte zwischen den beiden Lieben seines Lebens.

So wie Michael Stanke, der Dorfpfarrer, der verzweifelte, als er Gott nicht mehr spürte.

Es ist noch nicht so lange her, da saßen auch sie hier in der Abteikirche. Drei Monate lebten sie im Recollectio-Haus, einem gelben Flachdachbau gleich nebenan; im Schatten der Sandsteintürme, die das grüne Tal überragen, das der Main hier in die unterfränkische Erde gegraben hat. Oder Gott, je nach Glauben. Der kleine Ort Schwarzach mit seinen 3600 Einwohnern besteht aus nicht viel mehr als dem 1223 Jahre alten Benediktiner-Kloster. Hier betreibt die katholische Kirche ihr eigenes Therapiezentrum für verzweifelte Würdenträger. Es ist zum Schutzraum geworden für Seelsorger, deren Seelen krank wurden. Diesen Schutzraum hat Wunibald Müller geschaffen. Der 60-Jährige sitzt in seinem Büro im Erdgeschoss, an einem dunklen Holzschreibtisch. Hinter ihm hängt ein grüner Vorhang, wie man ihn aus Krankenhäusern kennt, auf dem Boden steht eine Tonvase. Er trägt einen brauen Wollpullover und eine randlose Brille. Er hat die Augen halb geschlossen, sein Blick geht ins Leere. Wunibald Müller denkt nach. Ob er stolz sei, war die Frage. Stolz darauf, dass sein Recollectio-Haus auf Monate ausgebucht sei. Er öffnet die Augen. "Natürlich freue ich mich", sagt er, "andererseits empfinde ich keine Freude, dass immer mehr Priester psychologische Hilfe brauchen. Der Erfolg des Hauses hat für mich einen bitteren Beigeschmack." Wunibald Müller hat mehrere Rollen in diesem Haus. Er ist Psychotherapeut, Theologe, Kirchenkritiker und deren Diplomat in Personalunion. Alles wegen der Kirche, alles für die Kirche - und das alles trotz der Kirche, so wie sie sich derzeit präsentiert.

Das Verhältnis der Gesellschaft zu dieser Kirche, zu den Priestern, ist ein paradoxes. Ihr Beruf wird wie kaum ein anderer idealisiert. Als Mittler zwischen Gottheit und Menschen haben viele Gläubige eine heilige Vorstellung von ihnen. "Nach der landläufigen Annahme müssen Priester mit Problemen leichter umgehen. Weil sie in eine Gemeinde eingebunden sind und ihre Spiritualität ihnen als unerschöpfliche Kraftquelle zur Verfügung steht", sagt Müller. Das stimmt aber so offenbar nicht. Es kommen immer mehr Priester zu Müller. Viele von ihnen sind überarbeitet, weil Gemeinden zusammengelegt wurden. Andere leiden unter spirituellen Zweifeln. Und nicht wenige sehen sich seit den Missbrauchsskandalen dem Generalverdacht ausgesetzt, auch einer derjenigen zu sein, die sich an Minderjährigen vergehen. Manche würden auf der Straße beschimpft oder bespuckt, einfach weil sie als Priester zu erkennen seien, erzählt Müller. Sie fühlten sich als Außenseiter. Dabei haben viele selbst Schwierigkeiten, das zu vertreten, was ihre Kirche lehrt. Mehr und mehr Pfarrer ziehen sich innerlich zurück. Ihnen fällt es schwer, Freundschaften einzugehen, weil sie glauben, dass jede emotionale Beziehung zu einem anderen Menschen dem Zölibat widersprechen könnte. Einige vereinsamen, lenken sich mit Computerspielen, Pornografie oder Alkohol ab. Und dann gibt es jene Priester, die sich nicht entscheiden können zwischen ihrem Amt und einer Frau.

Undenkbar, über all diese Probleme mit dem Pfarrgemeinderat offen zu reden. Unmöglich, sich damit einem Bischof anzuvertrauen. Deshalb stapeln sich auf Müllers Schreibtisch die Briefe mit Aufnahmewünschen von Priestern, Nonnen und Mönchen.

Auch Hans-Joachim Wahl hatte einen solchen Brief geschrieben. Es ist nicht schwierig, den Dekan kennenzulernen. Man muss nur an der Holztür des Pfarramtes von Bad Nauheim klopfen. Er öffnet sofort. Das, könnte man sagen, ist auch schon Teil seines Problems. Denn in der Vergangenheit hat Wahl zu häufig seine Tür geöffnet. Er gehört zu jener Sorte Priester, denen es schwerfällt, Nein zu sagen. Die sich jeder Kleinigkeit annehmen. Er will ja niemanden enttäuschen. Das spricht sich schnell herum. Hans-Joachim Wahl sieht nicht aus wie ein Mensch, der schnell verzweifelt. Der 52-Jährige ist ein kräftiger Mann mit Glatze und freundlichem Gesicht. Es wird schnell rot, wenn Wahl lacht. Und er lacht viel. Auch traurige Anekdoten versieht er mit einer Pointe. Und den Rest verniedlicht sein hessischer Dialekt. "Früher dachte ich immer, Priester sind glücklich mit dem, was sie machen", sagt er. Mehr nicht. Als wäre ohnehin klar, wie sein Satz weitergehen müsse.

Wahl stammt aus einem kirchennahen Elternhaus. In seinem Abiturjahrgang haben von 130 Schülern fünf Theologie studiert. Damals, Anfang der 80er-Jahre, ließen sich in Deutschland 200 bis 300 junge Männer pro Jahr zum Priester weihen. Im Jahr 2010 verzeichnete die Statistik der Deutschen Bischofskonferenz 80 - so wenig wie nie zuvor.

Hans-Joachim Wahl hat sich diesen Nachmittag freigenommen. Er führt vom Gemeindehaus ein paar Meter weiter herüber in die Sakristei seiner Kirche St. Bonifatius. Dort schlüpft Wahl in sein "tertiäres Geschlechtsmerkmal". Ein seltsamer Name für ein grünes Messgewand. "Es ist, als wäre es mit mir verwachsen, so häufig trage ich es", sagt Wahl, "es gibt Tage, an denen ich es kaum ausziehe."

Wahl faltet die Hände, wippt leicht vor und zurück. Es ist ruhig, nur die einsame Glühlampe über ihm im Gewölbe surrt leicht. So viel Ruhe macht ihn nervös. Sie kommt selten vor in einer Mittelpunktgemeinde wie der seinen. 25 Pfarrgemeinden gehören zu dem Dekanat, dem Wahl vorsteht; für zwei ist er als Pfarrer zuständig. "Nach meinem 20-minütigen Morgengebet um acht Uhr brauche ich mir im Pfarramt nichts Großes vorzunehmen - weil ich ja sowieso nicht dazu komme", sagt er. Laufend klingelt das Telefon, Besucher kommen spontan, um über ein Grußwort für den Sportverein zu sprechen. Mittags trauen, taufen und beerdigen, Messdiener treffen, den Kirchenchor, die Kolpingsfamilie oder Strafgefangene im Gefängnis des Nachbarorts. Abends mit Brautleuten, Angehörigen von Verstorbenen oder Eltern von Taufkindern sprechen; mit dem Pfarrgemeinderat tagen oder Gottesdienste in Altenheimen feiern. Zwischendurch und vorm Zubettgehen schnell Post und E-Mails beantworten. Freie Wochenenden gibt es nie. Sonntag ist der wichtigste Arbeitstag.

"Ich fühle mich wie ein Soldat, stets in Uniform, stets im Einsatz, immer zur Stelle", sagt Wahl. Mit Soldaten kennt er sich aus. Elf Jahre lang reiste Wahl als Militärpfarrer von Kaserne zu Kaserne. Im Oktober 2001 wurde er von Bischof Karl Lehmann gefragt, ob er die Pfarrgemeinde in Bad Nauheim übernehmen wolle. Mit vielen alten Menschen. Mit viel Arbeit. Er sagte Ja. Ein Jahr später fragte Lehmann ihn, ob er auch noch Aufsichtsratschef beim Bezirksverband der Caritas werden könne. Er sagte Ja. 2004 sprach Lehmann ihn abermals an. Ob er zusätzlich zu seinen anderen Aufgaben Dekan werden wolle. Das Amt entspricht dem eines Regierungspräsidenten. Ein Dekan vermittelt zwischen Bistum und Pfarrgemeinden. Ein Diplomatenjob, der allein schon tagesfüllend ist. Noch mehr Briefe, noch mehr E-Mails, noch mehr Konferenzen, nur, dass zu diesen bis zu 130 Teilnehmer anreisen. Wahl sagte Ja.

Aber es gefiel ihm schnell nicht mehr. "Ich merkte, wie ich innerlich verdurstete", sagt Wahl. In Schwarzach am Main hatte Wunibald Müller eine ganz ähnliche Vokabel benutzt. Er sprach von "Gottesverdurstung", unter der immer mehr Priester leiden würden. "Auf sie trifft der Satz des Schriftstellers Ödön von Horváth zu: 'Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme selten dazu.'"

Dass die Priester trotz weniger Kirchenmitglieder immer mehr zu tun haben, liegt vor allem daran, dass immer weniger Menschen Priester werden wollen. Dazu kommen Sparzwänge. Manche Pfarrer betreuen inzwischen fünf Pfarreien. Im Essener Bistum sind 259 ehemals selbstständige Gemeinden zu 43 Großgemeinden zusammengefasst worden. Die betroffenen Pfarrer fahren wie ein Wanderzirkus von Kirche zu Kirche. Für einige ist das zu viel. Zu viel Wanderschaft und zu viel Zirkus. "Die Geistlichen sind immer mehr Verwalter und immer weniger Seelsorger", sagt Müller, "daran zerbrechen viele." Burn-out nennt man das Syndrom bei Managern. Müller hat eine andere Umschreibung gefunden: "Die Inneneinrichtung im Körper brennt aus."

Hans-Joachim Wahl, der Rastlose, lebt direkt neben der Kirche im Stockwerk über dem Pfarramt. "Ich wünschte, ich würde hier einfach nur wohnen. In Wahrheit befinde ich mich rund um die Uhr auf dem Präsentierteller", sagt Wahl, "das Gefühl, dass ständig jemand auf mich guckt, hat mich kaputt gemacht."

Und es bleibt nicht nur beim Gucken. Einmal sei er mittags mit einer Freundin zum Kaffee verabredet gewesen, erzählt Wahl. Als sie am Pfarramt losfuhren, seien sie von einem Mitarbeiter aufgehalten worden. "Ich habe den Nistkasten für die Eulen aufgestellt", sagte der, "können wir nicht schnell ein Foto für die Lokalzeitung machen? Dauert nur fünf Minuten." Wahl nickte, wie er es immer tat. "Wenn ich Nein sagen würde, tragen mir das doch alle ewig nach."

Wahl fand dann einen anderen Weg, um die Arbeit zu kompensieren: essen. Er nahm 25 Kilogramm zu, pflegte kaum noch private Kontakte. Im Herbst 2008 konnte er nicht mehr. Das Predigen, das er so liebte, fiel ihm schwer, genau wie das Spielen auf der Kirchenorgel mit ihren 3500 Pfeifen. "Da musste ich einfach mal den Fuß rausstellen." Wahl rief bei Wunibald Müller in Schwarzach an. Rund zwei Autostunden sind es von Bad Nauheim ins unterfränkische Schwarzach. Für Hans-Joachim Wahl war es wie eine Reise in eine andere Welt. Das gelbe Gebäude bei der auf einer Anhöhe thronenden Abteikirche sei für ihn so etwas wie eine Reparaturwerkstatt gewesen, erzählt er. Drei Monate lebte er mit 17 anderen Geistlichen. Wer hier aufeinandertrifft, ist einander in der Regel noch nie zuvor begegnet. Doch die Zufallsbekannten bilden sofort eine Schicksalsgemeinschaft.

Die Flure des Hauses sind karg, hier ein gerahmtes Blumenbild, dort ein Schwarzes Brett. Wüsste man es nicht besser, könnte man Recollectio für eine Jugendherberge halten. Im Foyer sitzen Pfarrer um ein verstimmtes Klavier herum und unterhalten sich mit übereinandergeschlagenen Beinen. Wären sie in einer psychiatrischen Klinik, hießen sie Patienten. Im Recollectio werden sie Gäste genannt. Ärztekittel sind nicht zu sehen, da die psychotherapeutische und spirituelle Betreuung im Mittelpunkt steht. Wer ankommt, spricht mit Wunibald Müller. Mit Müller, dem Psychologen, weniger dem Theologen. Auch Müllers Frau arbeitet im Recollectio-Haus, als Psychiaterin.

Wie alle Gäste erhielt Hans-Joachim Wahl nach seinem Empfangsgespräch einen Stundenplan. Jeder Tag ist getaktet. Um sieben Uhr Morgengebet, anschließend Körperarbeit, Frühstück, Gruppentherapie oder kreatives Gestalten. Nach dem Mittagessen Einzelgespräche, sowohl therapeutische mit Psychologen als auch spirituelle mit Mönchen. Nachmittags jäten die Bewohner Unkraut im Klostergarten, reiten die Pferde des benachbarten Gestüts, sortieren Waren im Eine-Welt-Laden vorn an der Klosterpforte. Abends kochen sie gemeinsam und tanzen zu Beethoven oder Enya.

Das Haus sagt einiges über den Zustand der Kirche in Deutschland aus, vor allem über deren Defizite. Ohne Wunibald Müller hätte es dieses Haus wohl nie gegeben. Er wuchs nicht weit entfernt von Schwarzach im Odenwald auf, besuchte katholische Internate, auch jenes Kloster-Gymnasium, das zwischen der Abteikirche und dem Flachdachbau steht, in dem Müller nun sitzt. Nach dem Abitur studierte er katholische Theologie und Psychologie. Drei Monate verbrachte er bei den Missionsbrüdern des Heiligen Franziskus. Dann ging er. Die "geistige Enge" dort habe er nicht ausgehalten, sagt er.

Statt Messen zu halten, schrieb Müller Ende der 70er-Jahre seine Doktorarbeit. Sie trug den Namen: "Homosexualität: eine Herausforderung für Theologie und Seelsorge". Müller studierte dafür von 1979 bis 1982 in Berkeley bei San Francisco in Kalifornien, "weil dort 20 Prozent der Bevölkerung homosexuell waren". Damals hörte Müller erstmals von Einrichtungen, die sich seit den 70er-Jahren in den Vereinigten Staaten verbreiteten. Dort konnten Priester sich wegen psychologischer Probleme behandeln lassen.

Als er nach Deutschland zurückkehrte, erlebte er als Pastoralpsychologe, dass auch deutsche Pfarrer leiden. So sehr, dass Müller ihnen mit kurzen Gesprächen kaum helfen konnte. Da wurde dem jungen Diözesen-Angestellten klar, dass es auch hier Bedarf für ein kirchliches Therapiezentrum gab. Zwei weitere Gründe trieben ihn an. Der eine hatte mit seiner eigenen Laufbahn zu tun. Wo sonst hätte Müller sowohl als Theologe als auch als Psychologe arbeiten können? Der andere Grund war der auch damals nicht sehr zeitgemäßen Kirchenpolitik geschuldet. Müller wollte daran mitarbeiten, die Kirche von innen heraus zu modernisieren. "Das Recollectio-Haus war mein Beitrag für die Erneuerung der Kirche", sagt Müller heute.

Das erste an die Deutsche Bischofskonferenz adressierte Gesuch, ein deutsches Therapiezentrum für Geistliche zu eröffnen, wurde allerdings mit einem knappen Antwortschreiben abgelehnt. Selbst der liberale Kardinal Karl Lehmann war dagegen. Bei Müllers zweitem Anlauf zeigten sich immerhin die Bischöfe der Diözesen Freiburg, Würzburg und Rottenburg-Stuttgart bereit, das Projekt zu finanzieren. Sie wollten aber nicht als Betreiber auftreten. "Macht es auf euer eigenes Risiko", hieß es. Und so tat es Wunibald Müller gemeinsam mit der Benediktiner-Abtei. Innerhalb eines Jahres ließen sie den Flachdachbau umbauen. Den Namen "Recollectio" wählte ein damaliger Abt aus. Er bedeutet so viel wie "sich sammeln".

Vor 20 Jahren eröffnete Müller schließlich sein Therapiezentrum. 1200 Priester, Mönche, Nonnen und Pastoralreferenten ließen sich seitdem hier behandeln. In der Anfangszeit wurde es von Kirchenoberen "katholischer Mülleimer" genannt oder "Recyclinghof für Pfaffen". "Ist es schon so weit?", antwortete ein Pfarrer, als ein Kollege ihm den Besuch bei Recollectio empfohlen hatte. Müller erzählt diese Anekdote mit einem Grinsen. Es ist das Grinsen eines Mannes, der erkannt hat, dass er recht hat. Mittlerweile schätzen die bischöflichen Exzellenzen sein Haus. Spätestens seit den Missbrauchsskandalen hören sie aufmerksamer auf das, was Müller sagt. "Manches hätte verhindert werden können, wenn man früher auf uns gehört hätte", sagt er. Müller galt lange als Nestbeschmutzer, weil er katholische Tabuthemen öffentlich machte. Er sprach aus, was alle wussten: dass Pfarrer sexuelle Lüste haben, dass viele diese ausleben, dass manche von ihnen homosexuell sind. Müller redete öffentlich auch über jene Priester, die ihre Ministranten oder Schüler zu sehr gernhaben. Die sich an ihnen vergingen, ihre Seelen verletzten, manche zerstörten. Einige dieser Priester suchten bei Müller Rat. Manche sahen ihre Sünde ein, andere blieben stur. Vor allem die besonders Religiösen wollten Müller bisweilen weismachen, dass sie den Jugendlichen, die sie missbrauchten, eine Gunst erweisen würden. Müller redete mit ihnen, manchmal auch auf sie ein. Ihnen helfen konnte er nicht. "Sie sind in einer auf Pädophile ausgerichteten Klinik besser aufgehoben", sagt der Therapeut.

Müllers Recollectio-Haus ist vielleicht das Fortschrittlichste, was die katholische Kirche in Deutschland zu bieten hat. Auf dem Stundenplan finden sich jedoch Begriffe, die draußen, in der weltlichen Welt kaum einer verwenden würde. "Atem und Töne" heißt ein Kurs, ein anderer "Leibarbeit". Wer denkt sich solche Namen aus? Sie klingen abstrakt, verkopft. Ist nicht diese Gedankenwelt Teil des Problems? Wunibald Müller sagt: "Der Begriff Leibarbeit kommt aus der Tradition des Zen-Lehrers Karlfried Graf Dürckheim, der damit sagen wollte, dass der Körper nur im Zusammenhang mit dem ganzen Menschen gesehen werden kann."

Im Leibarbeitsraum im zweiten Geschoss kann man Schwester Christiane dabei zuschauen, wie sie mit Tennisbällen vor einer brennenden Kerze meditiert. Als nebenberufliche Therapeutin der Priester sagt sie Sätze wie: "Ich stehe locker da, aufrecht wie ein Baum, mein Kopf ist die Krone, meine Füße sind die Wurzeln, ich bin ganz da." 45 Minuten dauert ein Kurs, auch Yoga ist dabei, Nonne Christiane will ja mit der Zeit gehen. Und noch etwas will sie zeigen. Die Frau in Grau führt in den Keller, öffnet die Tür zu einem schmalen, gekachelten Raum, von dessen Decke ein Boxsack hängt. Schwester Christiane schlüpft in Boxhandschuhe, fixiert den Sack und schlägt zu. Eine Rechte, eine Linke, noch eine Rechte. Ihr Kreuz an der Halskette springt vor ihrer Brust auf und ab. Sie ruft: "Hier kann ich schreien 'Ja!' und 'Nein!' und 'Doch!'." Der Sack bewegt sich kaum. Der Boxraum sei immer geöffnet, rund um die Uhr, sagt die Nonne. Man weiß ja nie, wann den Geistlichen nach Schlagen zumute ist.

Was für die meisten Menschen normale oder zumindest bekannte Beschäftigungen sind, muss von vielen Priestern im Recollectio-Haus erst erlernt werden. Schwimmen, Joggen, Gitarrespielen kann für sie zu einer aufregenden Erfahrung werden.

Matthias Woll musste in Münsterschwarzach ebenfalls wieder lernen, was es heißt, ein normales Leben zu führen. Der Ordenspriester besuchte das Recollectio-Haus, weil er sich nicht zwischen zwei Lieben entscheiden konnte. Die eine Liebe hatte mit einem Kelch zu tun, die andere mit einem Katzenkostüm.

Er erzählt das an einem kalten Winternachmittag im Kloster Jünkerath. Es ist Ferienzeit, deshalb ruhig. Sonst werden die 60er-Jahre-Bauten nicht nur von Mönchen, sondern auch von Schulklassen bevölkert. Die Jugendbildungsstätte Don Bosco ist bei Lehrern beliebt. In der Abgeschiedenheit der Eifel können die Schüler nicht so viele Dummheiten machen. Woll spielt mit ihnen Tischfußball, Billard und Uno. Es riecht nach Hagebuttentee. Die nächste Kneipe ist viele Kilometer entfernt, der Rückweg hinauf auf den Klosterberg beschwerlich.

Matthias Woll trägt einen schwarzen Pulli und Nadelstreifenhose. Er blickt seinen Gast freundlich an, auch wenn der ihn nach seinem Liebesleben fragt. Der 46-Jährige ist bereit zu antworten. Er will nicht mehr schweigen über die Liebe und den Zölibat. Für den Pater war der lange sein größtes Problem. Der Zölibat verbietet seit bald tausend Jahren allen Priestern und Mönchen den Bund der Ehe und damit sexuelle Kontakte. Aber der Wunsch nach Zärtlichkeit lässt sich nicht einfach abstellen. Auch nicht durch ein päpstliches Dogma. "Seit dem Priesterseminar war das Thema Liebe für mich mit Angst besetzt", sagt Woll. Seine Worte kommen nur zögerlich.

Bevor Woll nach Jünkerath kam, arbeitete er in einer Stadt im Ruhrgebiet als Jugendseelsorger. Auf einer Karnevalssitzung lernte er Petra (Name geändert) kennen, eine verheiratete Pflegerin Ende 30. Woll gefiel ihr Lächeln. "Ist bei Ihnen noch Platz?", fragte Woll in seiner Glitzerhose damals und setzte sich zur Frau im Katzenkostüm an den Tisch. Woll war Büttenredner. Er und Petra flirteten, tanzten die ganze Nacht, verabredeten sich. Beide besuchten einander einige Male, bis Woll an einem Vormittag seinen Mut zusammennahm und Petra in ihrem Wohnzimmer küsste. "Ich hatte Herzklopfen", sagt er. Woll erzählt davon, wie er die Zärtlichkeit genoss, wie die Gefühle für Petra stärker wurden. Und wie es ihm gefiel, dass sie ihn als liebenswürdig betrachtete. "Das erlebt man als Priester ja nicht so häufig", sagt er.

Er und Petra trafen einander dreimal wöchentlich, schrieben SMS. Jedes Mal, wenn er sie besuchte, nahm er einen anderen Weg. Mit jedem Treffen, mit jeder Berührung wuchs die Liebe - und das Schuldgefühl. "Irgendwann denkt man nach", sagt Woll. Er und Petra fragten sich, wie ein gemeinsames Leben aussehen könnte. Sie müsste sich scheiden lassen, er seinen Beruf aufgeben. "Das war zu viel", sagt Woll, "uns wurde klar, dass wir keine gemeinsame Zukunft haben. Keine haben dürfen." Innerhalb weniger Wochen durchlebte Woll einen Schnellkurs in Sachen Liebe. "Ich merkte, dass sie etwas Tolles ist", sagt er, "aber auch so schrecklich wehtun kann." Woll fühlte sich wie ein Betrüger. "Ich musste unehrlich sein, das hielt ich nicht mehr aus", erzählt er. Ein halbes Jahr nach der Karnevalssitzung, bei der alles begann, offenbarte sich Wahl seinen Eltern. Sie reagierten enttäuscht. Dann sprach er mit dem Provinzial seines Ordens. Der verzog sein Gesicht und schickte ihn nach Münsterschwarzach.

Für Menschen, die der Kirche und ihrem Regelwerk fernstehen, mag es erschreckend klingen, in eine Therapie zu müssen, sobald sie Schmetterlinge im Bauch spüren. Für Wunibald Müller ist es der Alltag. Zehn bis zwanzig Prozent seiner Gäste kommen ins Recollectio-Haus, weil sie den Zölibat nicht einhalten können. Um nachvollziehen zu können, wie schwer Wolls Schuldgefühle wogen, muss man sich anschauen, wie der Mann aus der Eifel aufgewachsen ist. Matthias Woll stammt aus einem frommen Elternhaus. Sein Weg zum Priesterberuf war kurz: Messdiener, Oberministrant, mit 17 Jahren Orientierungstage im Jünkerather Kloster. Bei der Abschlussmesse habe er im Altarraum geweint, so nah habe er sich Gott gefühlt, erzählt er. Er wollte Priester werden. Seine Eltern waren begeistert. Im Sommer 1998 legte sich Woll in der Basilika von Benediktbeuern bei Augsburg vor den Bischof auf den mit einem Teppich bedeckten Steinboden, schwor Gehorsam und Ehelosigkeit. Die Eltern schenkten ihm einen silberfarbenen Kelch. Der passe gut in seine Hände, sagt Woll. "Wenn ich ihn halte, gibt er mir Kraft. Ich fühle mich getragen. Als ob Jesus Christus dann bei mir wäre." An jenem Junitag 1998 dachte der angehende Pfarrer, das sei es. Er hatte seine Berufung gefunden. Die Probleme mit dem Zölibat kamen erst später.

Petra war nicht die erste Frau in seinem Leben, aber seine erste große Liebe. "Ich bin ein feinfühliger Mensch", sagt Woll, schweigt kurz, als würde er eine Antwort erwarten. Es ist zu spüren, wie wohl sich Woll dabei fühlt, offen reden zu können. In katholischen Kirchen und Klöstern herrscht eine Kultur des Runterschluckens. Unter Ordensbrüdern offen über sexuelle Sehnsüchte zu sprechen, bedeutet normalerweise das Ende der klerikalen Karriere. Dazu die Existenzängste. Viele Pfarrer mit Lebensgefährtinnen oder Lebensgefährten fragen sich, ob sie ihrer Liebe wegen beruflich wirklich wieder ganz von vorn anfangen wollen. Ob es sich lohnt, auf das weltliche Leben umzuschulen und am Ende womöglich in der Arbeitslosigkeit zu enden. All diese Gedanken, hinter Klostermauern tabuisiert, werden im Recollectio-Haus offen ausgesprochen.

Müller ist nicht nur Psychologe, er ist auch ein Mann der Kirche. Recollectio wird von acht Diözesen finanziert, von den Bistümern Augsburg, Freiburg, Limburg, Mainz, München-Freising, Rottenburg-Stuttgart, Würzburg und Paderborn. Wie verhält sich Müller den Zölibatbrechern gegenüber? Rät er ihnen zur Liebe oder zum Amt? "Wenn jemand zu einer Frau stehen möchte, werde ich ihn nicht abhalten. Es gibt auch keinen Druck von oben. Die Bischöfe und Personalvorstände wissen, dass es keinen Sinn hat, einen Menschen gegen seinen Willen im Priesteramt zu halten. Wichtig ist, dass der Priester sich klar für das eine oder andere entscheidet."

Auf dem Ökumenischen Kirchentag in München forderte Müller, dass auch verheiratete Männer und Frauen Priester werden dürfen. Für einen Mann, der von der katholischen Kirche bezahlt wird, sind das starke Worte. Münsterschwarzach ist von Rom weit weg. Als Woll, der verliebte Priester, hierher kam, versicherte Müller ihm, dass seine Gefühle natürlich seien. "Liebe ist ein Geschenk Gottes", lautete der Satz, der Woll bis heute in Erinnerung geblieben ist. In den Malkursen malte Woll seine Bilder in roter Farbe, nicht in Schwarz, wie die meisten der anderen Besucher des Hauses. "Erst im Recollectio-Haus habe ich gemerkt, dass das Thema Liebe nicht mit Angst besetzt sein muss", sagt Woll. Ihm gefiel die Freiheit, alles tun und denken zu dürfen. Nicht mal die Gottesdienste sind für die Gäste des Recollectio-Hauses Pflicht. Woll brachte innerhalb von sechs Wochen sein Leben zu Papier, auf 40 Seiten, wie er sagt. Und er lernte jemanden kennen, der es abermals verändern sollte.

Michael Stanke, 53, ist Protestant. Aber seine Probleme haben den Dorfpfarrer aus Wiesens in Ostfriesland zu den Katholiken geführt. Keine 30 Kilometer vom Recollectio-Haus entfernt betreibt die evangelische Kirche seit 18 Jahren eine ähnliche Einrichtung unter dem Namen "Respiratio". Dort dauern die Kurse nur sechs Wochen. "Das hätte mir nicht gereicht", sagt Michael Stanke. Stanke ist seit 17 Jahren Pfarrer in der Gemeinde Wiesens bei Aurich. Was für die Katholiken Oberbayern ist, ist Ostfriesland für die Protestanten. Im Ort ist er nach dem Bürgermeister unangefochten die Nummer zwei, noch vor dem größten Bauern und dem Vorsitzenden des Fußballvereins. Das gedrungene Pfarrhaus, in dem er mit Frau und drei Kindern lebt, ist wie ein Marktplatz für die 1400 Dorfbewohner. Er sitzt in seinem Büro in einem Korbsessel und knabbert an einer selbst gebackenen Waffel. Während des Gesprächs klingelt es achtmal an der Tür.

Stanke ist ein hagerer Mann mit grauem Bart und scheuem Blick. Ihn trieb vor allem eine spirituelle Krise ins Recollectio-Haus. Um zu verstehen, wie er Gott verloren hat, muss Stanke erzählen, wie er ihn einst fand.

Nach einem Unfall 1981 war Stanke eine Stunde lang klinisch tot. Er war 23 und als er erwachte, konnte er sich weder an seine Freundin erinnern noch an die Hebräisch-Vokabeln, die er im Theologiestudium gelernt hatte. "Meine Festplatte war gelöscht", sagt Stanke und klopft sich an die Stirn. Er wusste nichts mehr. Bis auf das Vaterunser. Stanke wertete dies als Zeichen. Als Zeichen von oben. Wegen des Unfalls vergisst Stanke noch heute Namen und Gesichter. Als Dorfpfarrer ist das ungünstig. "Ich erkenne manchmal Leute nicht, denen ich am Vortag noch zum Geburtstag gratuliert habe", sagt er. Die Leute im Ort redeten über ihn, bis sich der Kirchenvorstand beschwerte. Das verunsicherte ihn. Man muss sehen, wie seine Augen leuchten, wenn er davon berichtet, wie erfüllend eine gelungene Predigt sein kann, um zu verstehen, wie stark sich Stanke über seinen Beruf definiert. Er will ein guter Pfarrer sein. Aber wie misst man den Erfolg eines Pastors? Nach einer Predigt applaudiert keiner. In anderen Berufen läuft die Anerkennung über das Gehalt. In der evangelischen Kirche macht man es für "Gottes Lohn", wie Stanke es ausdrückt, plus eine Alimentation, zwischen 3110 und 4226 Euro im Monat.

Stanke dachte viel nach darüber, wie er ankam in der Gemeinde. Wahrscheinlich zu viel. Ein paar Mal schrieb er in die Geburtstagsrubrik des Gemeindebriefs den Namen einer verstorbenen Person. Die Dorfbewohner reagierten empört. "Solche Fehler machten mir zu schaffen", sagt Stanke und greift nach dem Regalbrett neben ihm, das während des Gesprächs so etwas wie seine Stütze ist, wenn er über Dinge spricht, die ihm nahegehen. Die Situation eskalierte im Herbst 2008, als er auf der Kanzel der kleinen Dorfkirche stand und sich fragte, was er da eigentlich noch solle. "Mir war Gott auf einmal fremd vorgekommen, als ob jemand die Verbindung zwischen ihm und mir gekappt hätte", sagt Stanke. Ihm habe es nie gereicht, nur seinen Job zu tun, meint er. "Ich hatte eine tiefe, enge Beziehung zu Gott. Und plötzlich sah ich, wie dieses Verhältnis zerbrochen ist. Das war eine Katastrophe für mich." Stankes Augen blitzen kurz auf. Ein Blick, der nichts für säkulare Gemüter ist.

Stanke rief bei Wunibald Müller an. Vier Monate später setzte er sich in seinen roten Opel Astra und fuhr neun Stunden nach Münsterschwarzach. Er sprach mit Pater Anselm Grün, der einige Bücher geschrieben und auch regelmäßig in Talkshows über Glück und Gelassenheit referiert. Als Cellerar leitet Grün die Finanzen des Münsterschwarzacher Benediktinerordens. Wenn er Zeit hat, spricht er mit den Priestern unter vier Augen. Im Gespräch mit Stanke zitierte Grün Bibelsprüche. Er habe ihm lange zugehört, erzählt der Pfarrer aus Ostfriesland, ehe er Stanke am Ende zwei Ratschläge gab.

Die Beziehung zwischen ihm und Gott sei nicht von Gott gekappt worden, hatte Grün gesagt. Nein, Gott wolle stets Kontakt zu ihm halten. Er, Stanke, sei es gewesen, der die Verbindung gelöst habe. Das war der erste Tipp. Der zweite lautete: "Ihr Ehrgeiz ist gut, aber es ist falsch, sich über die Arbeit zu definieren." Er sei nicht mehr oder weniger wert, wenn er besser oder schlechter arbeite. Gott denke nicht in solchen Kategorien.

Dieses Gespräch war Stankes erstes Damaskuserlebnis in Münsterschwarzach. Das zweite fand auf dem Sportplatz statt. Stanke war nie ein sportlicher Typ, erzählt er. "Nach fünf Minuten war ich außer Puste." In Schwarzach schaffte er es zum ersten Mal, 40 Minuten zu joggen. "Es kam mir wie ein Wunder vor. Über meinen Körper fand ich wieder Zugang zu meiner Seele." Der Dorfpfarrer fuhr nach Ostfriesland zurück. Er fühlte sich gesund. Seitdem joggt er einmal die Woche. Zwischen ihm und Gott sei wieder alles in Ordnung, sagt er. "Die Verbindung ist wieder hergestellt. Ich kann beten, finde Ruhe und Freude in Gott. Manchmal spüre ich sogar seine Nähe."

Vor einigen Monaten hat Stanke die Gemeinde in Ostfriesland verlassen und eine andere in Amelungsborn bei Holzminden übernommen. Die Hannoversche Landeskirche plant, im dortigen Kloster ein drittes deutsches Therapiezentrum für Geistliche aufbauen. Das katholische Recollectio- und das evangelische Respiratio-Haus werden dem Bedarf nicht mehr gerecht. Michael Stanke möchte in dem neuen Haus weitergeben, was ihm selbst geholfen hat. Deshalb ist er noch mal nach Münsterschwarzach gefahren. Zum 20. Geburtstag des Recollectio-Hauses hatte Wunibald Müller ein Symposium veranstaltet. Viele ehemalige Gäste kamen. Auf der Bühne diskutierten Kirchenvertreter über den Sinn der kirchlichen Grundordnung und des Zölibats. Stanke machte sich Notizen, nickte heftig und schüttelte manchmal mit dem Kopf. Es scheint, als hätte er eine neue Mission gefunden.

Dekan Hans-Joachim Wahl, der Priester aus Bad Nauheim, trug in den ersten Wochen nach seinem Aufenthalt im Recollectio-Haus in seinem Terminkalender feste Ruhezeiten ein. Stürmte ein Mitarbeiter auf ihn zu, um Fotos für die Lokalzeitung zu machen, sagte er: "Das hat später auch noch Zeit." Aber dann fiel Wahl in alte Muster zurück. "Mein Körper musste mich bremsen", sagt er. Erst fiel der Pfarrer vom Rad und prellte sich das Knie; dann brach er sich das Nasenbein; schließlich riss sein Kreuzband, als er über das Kopfsteinpflaster der Kirche stolperte. Die Verletzungen verstand Wahl als Warnung. Er suchte sich eine neue Pfarrei. Im September übernahm er eine Gemeinde in Gießen. Den Posten des Dekans gab er auf. "Schon seitdem die Sache sicher war, hat sich meine Pulsfrequenz beim Belastungs-EKG verbessert, meinte mein Arzt", sagt Wahl. Vor seinem Antritt in der neuen Pfarrei fuhr Wahl noch mal ins Recollectio-Haus, 30 Tage, "um den Fuß vor die Tür zu stellen". Weihnachten und Ostern sollten seine Belastungstests sein. Es sind oft die gefährlichsten Zeiten für überlastete Pfarrer. Fast täglich ist eine Messe zu lesen. Tagelang funktionieren und predigen und dabei auch noch feierlich dreinschauen. "Die Gemeinde unterstützt mich fantastisch und akzeptiert, wenn ich sagte, es geht nicht mehr. Ich hatte seit Jahren kein so stressfreies Weihnachten mehr", erzählt Wahl, der an den fünf Osterfeiertagen "nur sieben Messen" zu lesen hat. Seit er in Gießen ist, hat er zehn Kilogramm abgenommen.

Auch Priester Matthias Woll, der sich zwischen seinen Lieben nicht entscheiden konnte, hatte sich in Münsterschwarzach etwas vorgenommen. Er machte Schluss, brach den Kontakt zu seiner großen Liebe aus dem Ruhrgebiet ab und zog ins Kloster nach Jünkerath. Er habe sich erst mal aufs Neue für den Priesterberuf entschieden, hatte er Wunibald Müller im Recollectio-Haus gesagt. Aber das war nicht die ganze Wahrheit. Während seiner Zeit in Schwarzach hatte sich Woll in einen von Müllers Gästen verliebt. In Miriam (Name geändert), eine Nonne, die die Enge ihrer Schwesterngemeinschaft in einem bayrischen Kloster nicht mehr ausgehalten hatte. Während ihres gemeinsamen Aufenthalts am Main teilten beide das Gefühl, sich aus ihrer "Starre befreien" zu müssen. Das verband sie. "Wir lachten zusammen, schwiegen zusammen, weinten zusammen", sagt Woll, "und irgendwann waren wir auch zärtlich miteinander." Einige Monate nach Recollectio trafen Matthias und Miriam eine Entscheidung: Sie wollten Pause machen von ihren Berufen, die sie so liebten. So wie sie es in Münsterschwarzach gelernt hatten. "Höre auf dein Herz", hatte es dort geheißen, "handele ihm nicht zuwider."

Matthias und Miriam beantragten eine einjährige Beurlaubung, so wie sie jeder Geistliche beantragen kann. Woll zog vom Jünkerather Kloster nach München. Seine heutige Arbeit ist weltlich: Weil er einst Sozialpädagogik studiert hatte, muss er nicht wie andere ausgeschiedene Mönche von Sozialhilfe leben. Woll arbeitet in einem Kinderheim der Caritas, hilft Jugendlichen bei ihren Hausaufgaben, spielt mit ihnen Tischtennis. Miriam sieht er am Wochenende. Manchmal besucht er in einem Jesuitenorden sein altes Leben, redet mit Mönchen, betet. Dort sieht er, was er aufgegeben hat, wahrscheinlich für immer: den Platz hinterm Altar, das Spielen der Orgel, die trinkseligen Abende mit den Klosterbrüdern - sein Leben, wie er es 22 Jahre lang kannte. "Ich muss Trauerarbeit leisten", sagt er. Andererseits, seinem Blutdruck gehe es besser, abgenommen habe er auch. Ob er nach dem Sabbatjahr wieder zurückkehren möchte ins Priesteramt? Woll kippt den Kopf zur Seite, er könne es sich nicht vorstellen, sagt er. Er erzählt, wie schön der letzte Urlaub mit Miriam war. Fünf Tage Salzburg, spazieren, essen, lieben. Auch in der Kirche waren sie. Händchen haltend haben sie diese betreten, erzählt Woll. Früher hätte er das in keinem Gotteshaus der Welt gewagt. An jenem Tag in Salzburg aber habe er gespürt, wie schön es ist, seine Liebe zu zeigen. "Da hatte ich endlich Frieden im Kopf", sagt er.

Leave a Reply