„Hier, schauen Sie, das nenne ich musikalische Psychologie.“ Hastig, aber zielgenau blättert Marc Piollet in der Partitur von „Eugen Onegin“ – ehe der Zeigefinger auf die Stelle fährt, auf die es ihm ankommt: „Erzähl von früher mir noch was“ fordert Tatjana da ihre Amme auf – und singt dies auf dasselbe Motiv, das später das Horn wieder und wieder in ihre große Briefszene hineinruft. Ihrer Liebe zu Onegin noch unbewusst, ist sie, sagt Piollet, doch schon von ihm besetzt.
Überhaupt sei Onegin, wie der Holländer in Wagners Oper, für Olga als Sehnsuchtsobjekt bereits „da“, bevor er leibhaftig die Bühne betritt: „Das ist fantastisch. An scheinbar unbedeutenden Stellen gibt es diese identischen Intervallfolgen, die den inneren Vorgang deutlich machen.“ Sicher komponiere Wagner zur selben Zeit – um 1875 – ungleich komplexer, „dafür braucht er aber auch 30 Seiten, wo Tschaikowsky mit einer auskommt“.
Wagner ist komplexer, aber er braucht auch 30 Seiten, wo Tschaikowsky nur eine Seite braucht.
Als psychologisches, auch den Text ernstnehmendes Kammerspiel mit einer nach innen gewandten Handlung, die freilich in der Musik „nach außen“ kommt – so will Piollet Tschaikowskys Oper in der Oper am Dom realisieren (Premiere ist am 20. Oktober, 18 Uhr). „Auf dem Schirm“ hat er sie „schon lange“, dirigiert sie jetzt allerdings erstmals.
Die szenische Seite verantwortet der in Köln mittlerweile gut etablierte Dietrich Hilsdorf, über dessen Arbeit Piollet fairerweise nicht viel sagen will – „da müssten Sie ihn schon selbst fragen“. Immerhin rückt er mit der Auskunft heraus, dass die Raumdisposition der Regie das von ihm intendierte Kammerspiel möglich macht, auch auf der breiten Bühne der Oper am Dom.
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Keinen Zweifel lässt er daran, dass die Zusammenarbeit mit dem zuweilen als „schwierig“ gehandelten Hilsdorf gut funktioniert: „Er ist vor allem ein sehr musikalischer Regisseur, hört auf Klangfarben und Modulationen.“ Im übrigen kennt man einander von vier gemeinsamen Projekten aus Piollets Zeit als Generalmusikdirektor in Wiesbaden (2004-2012). Sehr angetan ist Piollet auch von den Sängern: „Die sind alle type-gecastet, es sind sehr junge Sänger – wie Tschaikowsky es wollte.“ Andrei Bondarenko zum Beispiel, der Onegin, sei 26, also genauso so alt wie im Stück vorgesehen: „Das hat man nicht alle Tage.“
„Eugen Onegin“, 1879 uraufgeführt, ist nach wie vor die wohl beliebteste russische Oper.
Am Sonntag, 18 Uhr, hat sie in der Kölner Oper am Dom Premiere. Regie führt Dietrich Hilsdorf, Marc Piollet dirigiert das Gürzenich-Orchester. Andrei Bondarenko singt die Titelpartie, Olesya Golovneva die Tatjana. (MaS)
Piollet ist in Köln kein Neuling: Vor zwölf, 13 Jahren, also in der Krämer-Ära, dirigierte er hier mal eine „Traviata“- und eine „Bohéme“-Staffel – letztere mit Alexander Fedin, der jetzt im „Onegin“ den Triquet singt: „Da schließt sich ein Kreis.“ Das aktuelle Köln-Engagement hat er indes Intendantin Birgit Meyer zu verdanken – man kennt und schätzt sich von gemeinsamer Arbeit an der Wiener Volksoper her.
Ein musikalischer Spätstarter
Marc Piollet ist gebürtiger Pariser (des Jahrgangs 1962). Das hört man ihm kaum an, sein Deutsch ist fast akzentfrei. Das ist kein Wunder – seine komplette musikalische Sozialisation erfolgte in Deutschland. Dort – in Berlin – lebt er heute, dort liegt auch der Arbeitsschwerpunkt des mittlerweile freiberuflich tätigen Dirigenten. Wie kam’s? Piollet ist nach eigener Auskunft ein musikalischer Spätstarter. Ursprünglich hatte er Tonmeister werden wollen. Damals, 1980, konnte man das einschlägige Studium allerdings nicht in Frankreich, sondern nur in Berlin absolvieren. Freilich sind die Tonmeister-Fächer weithin identisch mit denen des Dirigierstudiums.
Feuer fing Piollet dann, als er einem Dirigierkurs Ferdinand Leitners in Salzburg als Gasthörer beiwohnte. Sein musikdramatisches Erweckungserlebnis hingegen widerfuhr ihm mit Mozart, genauer: mit Rolf Liebermanns „Don Giovanni“-Opernfilm (in der Regie von Joseph Losey): „Ich habe mir dann die Partitur am Klavier zusammengespielt, und es war klar: Ich wollte Dirigent werden.“ Hinzugefügt werden muss: Liebermann, Komponist und legendärer Intendant der Hamburger Staatsoper, war Piollets Stiefvater. Von ihm kam auch die bestärkende Aufforderung: „Wenn du es unbedingt willst, dann mach’s doch.“
Piollet schaffte dann tatsächlich die Aufnahmeprüfung für die Dirigierklasse an der Berliner Kunsthochschule. Neben dem Studium besuchte er Meisterkurse bei John Eliot Gardiner, Michael Gielen, Kurt Masur und Lothar Zagrosek. Extrem profitierte Piollet, der noch zu Ausbildungszeiten ein Jugendorchester in Berlin gründete, nach eigenen Worten von der Wende. Im Wilden Osten, am Stadttheater Brandenburg und beim Philharmonischen Staatsorchester Halle, begann sein Aufstieg. Das Staatstheater Kassel und die Wiener Volksoper waren weitere Stationen.
Piollet legt allerdings Wert auf die Feststellung, dass er nicht zufällig, sondern gerne in Deutschland lebt und arbeitet: „Über deutsche Musik muss ich ja nicht lange reden. Es ist aber auch das konzentrierte Erarbeiten eines Stückes, das hier – wie jetzt in Köln – besser funktioniert als anderswo.“ Wenn er in Frankreich wirke, glaubten die Leute nicht, dass er Franzose sein: „So eingedeutscht bin ich mittlerweile.“
Böse aus Langeweile
Was will er mit seinem „Onegin“ beim Kölner Publikum erreichen? „Ich will innere Vorgänge hörbar, erlebbar und plausibel machen.“ Und obwohl die Titelfigur in der Inszenierung unsympathisch angelegt ist, geht es ihm nicht um Moralisierung, nicht um die Lenkung des Zuschauerurteils: „Das muss jeder für sich entscheiden.“ Zurückhaltend antwortet er auch auf die Frage nach einer Kritik an den sozialen Zuständen im ausgehenden Zarenreich: „Diese Kritik ist in der Vorlage, bei Puschkin, stärker als bei Tschaikowsky.“ Piollet bleibt bei der Psychologie: „Das Böse kommt hier spielerisch, es kommt aus der Langeweile.“
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