Plagiatsdebatte um von der Leyen: Doktorarbeiten werden kaum gelesen – FAZ

Im Wintersemester 2010/11 wurden, der jüngsten umfassenden Studie des Statistischen Bundesamtes zufolge, an deutschen Hochschulen mehr als 200000 Promotionsvorhaben betreut. Die sogenannte Betreuungsrelation betrug 1:6, sechs Promovierende auf einen Professor, in den Ingenieurswissenschaften 1:15. Dabei sind fünfzehn Prozent der deutschen Professoren gar keine Doktormütter oder -väter. Dafür kommen etwa fünfhundert der gut dreißigtausend Professoren auf Zahlen von 26 und mehr Kandidaten. Da braucht man dann ja vermutlich schon einen Assistenten, der sich all die Namen und Themen merkt. In welchen Fächern sich diese Form der Massendoktorandenhaltung häuft, ging aus der Studie nicht direkt hervor. Aber dass um die dreißig Prozent aller Promotionen im Fach Medizin erfolgen, mag einen Hinweis darauf geben.

Jürgen Kaube



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Für den harten Kern der Plagiatsvorwürfe gegen Ursula von der Leyen besagen solche Zahlen wenig. Sie bilden nur den Kontext eines Vorgangs, der typischen Mustern folgt. Genauer muss man wohl sagen: ebenso typischen wie schwerverständlichen Mustern. Laut Vroniplag, der Website zur Dokumentation von Plagiaten in deutschen Hochschulschriften, hat von der Leyen auf 27 der 62 Seiten ihrer 1990 publizierten Hannoveraner Dissertation etwas abgeschrieben und Quellenverweise gemacht, die ins Leere führen.

Belege, die keine sind

Darunter finden sich so merkwürdige Abschriften wie die aus einem Büchlein über den französischen Schiffsarzt Jules Crevaux, der 1881 das Dampfbad nach der Entbindung als medizinische Praxis von Amazonas-Indianern beschrieben hatte. Warum jemand so etwas weder kenntlich macht noch in eigenen Worten formuliert, erschließt sich nicht sofort. Oder ein anderes Beispiel: Weshalb fügte die Promovendin in Passagen, die ebenso wörtlich wie undeklarierterweise einer Quelle folgen, Literaturverweise ein, die gar nicht zum zitierten Text und seiner Aussage passen? Hatte sie gar nicht verstanden, dass ihre Belege keine sind? Oder war es ihr gleichgültig, und es kam nur darauf an, irgendwie den Eindruck der Einschlägigkeit zu erwecken? Die Mühe, es besser zu machen, wäre wohl kaum zu groß gewesen, um schon ein Motiv für diesen Pfusch zu liefern. Wer Zeit hat, eine irreführende Literaturangabe zu machen, sollte doch auch die Zeit haben, sie wegzulassen.

Psychologie hilft also nicht sehr weit, um Fälle wie den vorliegenden zu begreifen. Im Spektrum der gut einhundertfünfzig Plagiatsstudien, die Vroniplag bisher veröffentlicht hat, liegt er irgendwo in der Mitte. Unübertroffen ist der Fall eines Mediziners, der in seiner Dissertation auf 61 von 61 Seiten aus der Dissertation eines anderen Mediziners derselben Universität Münster abgeschrieben hatte, die ihrerseits auf 51 von 54 Seiten Plagiate enthielt – und sie bei demselben Doktorvater einreichte, dem die Sache innerhalb eines guten halben Jahres zweimal eingeleuchtet hat.

Behandlung nach von der Leyen

Womit wir bei den Gutachtern und also wieder bei den anfangs genannten Umständen des Promovierens in Deutschland wären. Denn offenbar hat auch im Fall von der Leyen 1990 niemand richtig gelesen. Jedenfalls niemand, der mit dem Thema und der entsprechenden Forschung vertraut genug gewesen wäre, um beispielsweise Belege, die keine sind, zu erkennen. Medizinische Dissertationen dürften neben juristischen ohnehin zu den am wenigsten gelesenen Textgattungen gehören, weil von so vielen, die angefertigt werden, alle wissen, dass es sich nur um die Mimikry an Forschung handelt. Der Wissenschaftsrat hat 2001 ausdrücklich festgehalten, dass medizinische Promotionen nur zum kleineren Teil eine originäre Forschungsarbeit darstellen.

Das ist natürlich eine wohlfeile Mitteilung, wenn nicht nur der verliehene Doktor-Titel die Einhaltung wissenschaftlicher Grenzwerte verspricht, sondern auch an die Arbeiten formale Kriterien für Forschung angelegt werden. „Wer sich an dieser Dissertation orientiert“, so der Berliner Jurist Gerhard Dannemann, der an den Analysen auf Vroniplag beteiligt ist, über von der Leyens Text, „könnte eine falsche Diagnose stellen“. Empirisch dürften aber Fälle, in denen nach von der Leyen ärztlich behandelt wurde, schwer nachweisbar sein. Immerhin wissen ja gerade Ärzte, was sie von Erkenntnissen zu halten haben, die nur in medizinischen Dissertationen stehen. Interessant wäre es schon, wie im Fall Schavan, wenn die Arbeit auch nur in andere Studien eingegangen und insofern überhaupt als Forschungsbeitrag und nicht nur als Qualifikationsschrift behandelt worden wäre.

Lesen ist als Methode rückläufig

Insofern muss man sich trotz der Plagiatsfälle über die Forschung und die ärztliche Praxis vermutlich diese Sorgen nicht machen. Anders steht es mit dem laxen Desinteresse, mit dem die Universitäten vielerorts noch immer dem Tatbestand zusehen, dass die Bereitschaft zu lesen weit und inzwischen völlig aussichtslos hinter der Bereitschaft zu schreiben zurückbleibt. Dabei sollte man keine Disziplin besonders herausheben, denn Lesen ist als Methode auch andernorts rückläufig. Hauptsache, der Text- und der Anträge- und der Titelausstoß sind hoch genug, lautet die Devise dort, wo sich an die entsprechenden Zahlen und nur an sie das Erfolgsbewusstsein knüpft.

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Die private Maxime „Hauptsache, ich bekomme den Titel“ ist das eine. Das andere ist die kollektive Maxime „Hauptsache, es sieht so aus wie Forschung“, die den Drittmittelzirkus mit seinen Anträgen, die gleichzeitig Abschlussberichte sind, so munter antreibt; und den Publikationsfetischismus, dem es lieber ist, jemand schreibt dreißigmal dasselbe als dreimal etwas Neues; und eine besinnungslose Produktion von Doktoranden in Graduiertenkollegs, für die es nachher keine Stellen gibt. Das eine also ist der kleine Betrug und das andere der große. Der Ministerin wird diese Unterscheidung aber nicht viel helfen.



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© dpa, reuters




Angeblich kein Betrug: Von der Leyen weist Plagiatsvorwürfe zurück

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