Pädagogik, Psychologie, PISA: Eine nicht gehaltene Rede

Was eine österreichische Bildungsverantwortliche vor der OECD sagen könnte und sagen sollte: „Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ziel Ihrer Organisation ist die Wirtschaftsentwicklung. In diesem Sinne finanzieren Sie die PISA-Studien. Dafür ist Ihnen zu danken. Österreich hat an diesen Bildungsvergleichen teilgenommen. Leider waren unsere Ergebnisse bescheiden. Dass wir den nächsten Durchgang versäumen, ist eine hausgemachte Blamage. Deshalb werden wir uns beim nächsten Testverfahren umso mehr anstrengen. Das verspreche ich.

Heute aber will ich Ihnen etwas anderes erzählen. Ich komme aus einem Land, das als Wiege der Tiefenpsychologie bezeichnet wird. Sigmund Freud entwickelte in Wien seine Seelenkunde. Sie war die letzte große geistige Bewegung, die von Österreich ausgehend die ganze Welt ergriffen hat.

Freud selbst hat sich zum Bildungswesen kaum geäußert. Einmal meinte er, dass jede Erziehung den Weg zwischen der ,Scylla des Gewährenlassens‘ und der ,Charybdis des Versagens‘, will heißen: des Verweigerns, zu suchen hat.

Der Individualpsychologe Alfred Adler hatte zur Schule mehr zu sagen: Sein Leitmotiv war die Gemeinschaftsfähigkeit des jungen Menschen – ein Anliegen, über dessen Aktualität angesichts der dramatischen sozialen Veränderungen in Europa kein Zweifel bestehen kann.

In Wien gründete Maria Montessori, gemeinsam mit der Lehrerin Anna Freud übrigens, Schulen, die auch architektonisch eine Abkehr von den ,Kinderkasernen‘ der Monarchie darstellten. Am Wiener Rudolfsplatz kann man ein solches Gebäude noch heute bewundern. Lange vor PISA war Wien ein Zentrum psychologischer Untersuchungen. Das Forscherehepaar der Bühlers führte sie durch, zu ihrer Schülergeneration gehörten Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda.

Feuerköpfe wie Wilhelm und Anni Reich stellten in Wien die sexuelle Befreiung ins Zentrum ihrer Pädagogik, und selbst die Summerhill-Bewegung, die in den 1960er-Jahren zu weltweiter Popularität gelangte, hatte einen kurzen Frühling in Österreich.

Die Weltwirtschaftskrise und die Vertreibung und Vernichtung des jüdischen Wien bedeuteten menschliche Tragödien und einen intellektuellen Aderlass. Anderseits aber exportierten Emigrantinnen und Emigranten ihre Ideen in die ganze Welt. Anna Freud lehrte in London, die Bühlers wirkten in den USA, so wie die ,Wiener‘ Siegfried Bernfeld, Bruno Bettelheim, Erik Erikson, Peter Blos, die Reichs und Dutzende andere.

Selbst 1945 war die tiefenpsychologische Tradition Wiens nicht völlig unterbrochen. Der ,rassisch nicht belastete‘ August Aichhorn, Verfasser des Erziehungsklassikers ,Verwahrloste Jugend‘, lud Anna Freud in berührenden Briefen nach Österreich ein. Gekommen ist sie viel später. Ab den 1950er-Jahren schufen weltanschaulich so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Erwin Ringel, Hans Strotzka, Viktor Frankl und Harald Leupold-Löwenthal eine zweite Blüte der Tiefenpsychologie. Aus der ,Marienthal‘-Forschergeneration war Lotte Schenk-Danzinger geblieben.

Später kamen Rudolf Ekstein, Marianne Springer-Kremser, Max Friedrich, Ernst Berger dazu. Sie alle bauten zusammen mit Psychologen und Psychagogen ein Werk auf, dem tausende Kinder Anregungen und Hilfe verdanken.

Dieser Tradition fühle ich mich verpflichtet. Das bedeutet kein Nein zu den Momentaufnahmen Ihrer Organisation. Aber mir geht es um mehr. Worum, wollen Sie wissen? Als man Sigmund Freud einmal fragte, was die Psychoanalyse eigentlich wolle, meinte er: ,Ihr Ziel ist, den Menschen arbeits- und liebesfähig zu machen.‘ Arbeits- und Liebesfähigkeit sind die Ziele meiner Bildungspolitik. Für sie stehe ich. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.“

So weit mein Vorschlag für die Rede: Er steht zur freien Verfügung. Glauben Sie, dass ein solcher Vortrag jemals gehalten werden wird?

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit
Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.04.2014)

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