ÖV-Psychologie

Stellwerkstörungen, Zugausfälle oder Busse, die im Stau stecken bleiben: Pendler erleben in ihrem Alltag einiges. Nicht selten bringen die Verspätungen Fahrgäste in Rage. Das liegt daran, dass Pünktlichkeit bei den Schweizern grossgeschrieben wird. Denn gerade weil man rechtzeitig zu einem Termin erscheinen will, nehme man Bus oder Bahn, erklärt Simon Hardegger, Leiter des IAP-Zentrums Diagnostik, Verkehrs- und Sicherheitspsychologie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in der «Neuen Zürcher Zeitung». «Kommt also etwas dazwischen und kann ich diesen Anspruch nicht wie vorhergesehen erfüllen, befürchte ich einen Gesichtsverlust – mein Ruf, ja meine Ehre stehen auf dem Spiel.»

Das Problem sei, dass der ÖV-Passagier seine Handlungsfreiheit quasi abgibt, wenn er in den Zug oder den Bus steigt. Sitzt man mit dem Auto im Stau, ist das anders. Man hat sich selbst hineinmanövriert und kann theoretisch jederzeit aussteigen. «Ein Stau ist abstrakt, er ist gesichtslos. Eine Verspätung mit dem öffentlichen Verkehr hingegen hat ein Gesicht: den Zugbegleiter, den Lokführer. Sie werden als Schuldige deklariert», sagt Hardegger zur Zeitung. Weil man nichts gegen die Verspätung unternehmen könne, entstehe ein Gefühl der Unterlegenheit. «Und dieses ist ein ganz klassischer Aggressionstreiber, vor allem, wenn ich einen vermeintlich Schuldigen ausmachen kann.»

«Verspätung löst Frustrationen aus»

Die Ansprüche der Schweizer verschlimmern die ganze Situation. Weil Züge und Busse im Vergleich zu anderen Ländern in der Schweiz äusserst zuverlässig sind, ist der Ärger über die Unpünktlichkeit umso grösser als an Orten, an denen die Leute stundenlang auf einen Bus warten müssen. «Wer sich dem öffentlichen Verkehr anvertraut, will primär von einem Ort zum anderen transportiert werden. Wenn dieses Ziel nicht wie geplant umgesetzt werden kann, entspricht dies einer Störung des eigenen Antriebs und löst Frustrationen aus», sagt Hardegger in der NZZ.

Es folgen Flüche, Drohungen gegen das Personal und nervöses Fingerklopfen. Nützen tut es trotzdem nichts. Warum sich also grün und blau ärgern? In der Zeit ist es manchmal sinnvoller, sich einmal mit dem Fremden gegenüber zu unterhalten. Dann ist geteiltes Leid auch nur noch halbes Leid.

(vro)

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