Österreichische Schule und Humanwissenschaften: Die Einheit des Wissens

von Gérard Bökenkamp

Erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält

Der Evolutionsbiologe Edward O.
Wilson veröffentlichte in den neunziger Jahren ein visionäres Buch: „Die
Einheit des Wissens“. Darin forderte er dazu auf, die Grenzen zwischen den
Disziplinen zu überwinden, um eine einheitliche Wissenschaft vom Menschen zu
schaffen. Diese sollte von der Evolutionsforschung und Genetik über die
Primatologie und Ethnologie bis zur Soziologie, Geschichte und
Wirtschaftswissenschaft reichen.

Dieser Ansatz einer integralen
Humanwissenschaft trifft sich mit dem Forschungsprogramm der Österreichischen
Schule, die das Handeln des Individuums ins Zentrum ihrer Betrachtungen rückt. Dass
Ludwig von Mises sich auf Freud und die Psychoanalyse bezogen hat, zeigt die
Offenheit für den Dialog mit anderen Forschungsfeldern. Friedrich August von
Hayek hat sich mit Psychologie, Ideen-, Rechts- und Verfassungsgeschichte
auseinandergesetzt. Er hielt eine Ökonomie, die Geschichte, Psychologie und
Philosophie ignoriert, nicht nur für fruchtlos, sondern sogar für gefährlich.

Auch die Ordoliberalen der
Freiburger Schule verfolgten einen integralen Ansatz, der die
Wirtschaftsordnung als eine Ordnung neben anderen Ordnungen – der politischen
Ordnung, der Rechtsordnung, der kulturellen Ordnung und so weiter – beschrieb.

Eine integrale Wissenschaft vom
Menschen führt uns von den Gesetzen der Logik über das Handeln des Individuums,
das sich als Ergebnis von Anlage, Umwelt und persönlichem Lebenslauf
beschreiben lässt, über die verschiedenen Formen sozialer Organisation zu
Beschreibungen von Großgesellschaften, Volkswirtschaften und historischen
Epochen.

Universelle Logik und das menschliche Handeln

Die logische Ökonomie untersucht
die Gesetze der universellen Logik in Bezug auf das individuelle Handeln. Menschliches
Handeln geschieht immer in einem Raum, in einer Zeit, nach den Gesetzen der
Kausalität und entsprechend den Regeln der Logik. Handeln erfolgt immer an
einem Ort und zu einer Zeit. Eine Handlung geschieht oder sie geschieht nicht,
aber sie kann nicht etwa geschehen und nicht geschehen, die Ursache einer
Handlung geht einer Handlung voraus und nicht umgekehrt.

Auf jeden Fall nicht in der
Dimension, in der sich die Menschen bewegen. Bei Lichtgeschwindigkeit, in
anderen Dimensionen, vor oder nach dem Urknall mag die Logik versagen. Für
diese Grenzbereiche der Physik mag die Gültigkeit der Logik bestreitbar sein,
aber sie gilt uneingeschränkt für die soziale Welt. Auf der Ebene, die die
Menschen bevölkern, gelten die Regeln von Zeit, Raum und Kausalität. Davon ausgenommen
sind nur Götter, magische Wesen und Zeitreisende. Die Ökonomie fantastischer
Welten mag faszinierend sein, aber sie interessiert uns an dieser Stelle nicht.

Das Individuum als konkrete Größe

Das Individuum ist die kleinste
und die einzige konkrete Größe in der Sozialwissenschaft. Gesellschaft, Volk,
Klasse, Nation, System, Netzwerk, Struktur und so weiter sind Ableitungen,
Abstraktionen und Modelle. Diese sind ein notwendiger Teil der Sprache über die
Wirklichkeit. Der einzelne Mensch ist Wirklichkeit.

Ich kann viele Menschen beim
Handeln beobachten. Ich sehe einen Kaufmann in seinem Geschäft, einen Bauern
auf seinem Feld, einen Politiker an seinem Redepult, einen Feldherrn in seinem
Jeep, den Häuptling in seinem Zelt. Die Ökonomie, die Landwirtschaft, die
Politik, das Militär, den Klan, die Gesellschaft und die Nation kann ich
hingegen als solche nicht beobachten. Letztlich sind alle gesellschaftlichen
Entwicklungen auf das Handeln von Individuen zurückzuführen.

Biologie und Psychologie des Individuums

Die Evolutionspsychologie oder
Soziobiologie untersucht die Evolution des menschlichen Genoms und damit die
biologische Prägung des menschlichen Verhaltens. Sie vergleicht unser Verhalten
mit dem Verhalten anderer Arten. Natürlich ist der Vergleich mit unseren
nächsten Verwandten, den Primaten, besonders aufschlussreich. So dass die
Primatologie eine Schlüsselstellung besitzt.

Die nächste Stufe betrifft den Vergleich
verschiedener Kulturen. Die Ethnologie, die Wissenschaft von Völkern und
Kulturen, bietet das empirische Material zum Vergleich von Hunderten, ja zum
Vergleich von Tausenden unterschiedlicher Zivilisationen. Aus den
Gemeinsamkeiten und Unterschieden lässt sich ableiten, welches Verhalten beim
Menschen mit der Kultur variiert und wo es Konstanten gibt, die wahrscheinlich
biologisch bedingt sind.

Die Neurobiologie beobachtet das
Gehirn des Individuums und leitet daraus ab, welche Impulse zu Handlungen
führen, sie untersucht quasi die Mechanik des Denkens und Fühlens. Die
Entwicklungspsychologie untersucht die verschiedenen Phasen der Sozialisation
und Persönlichkeitsentwicklung. Die Sozialpsychologie untersucht die
Interaktion von Individuen in der Gruppe, die Auswirkungen von Gruppendynamik,
Konflikten und Kooperation. Das Studium dieser Wissenschaften gibt uns ein
grobes Raster über die Veranlagung, Entwicklungsphasen und Verhaltensmuster der
Menschen.

Die historische Biographie

Die historische Biographie, also
die Beschreibung des Lebens eines einzelnen Menschen, wurde in den siebziger
Jahren von der Gesellschaftsgeschichte verdrängt. Dabei ist die
Gesellschaftsgeschichte nur die Geschichte einer Abstraktion, wohingegen die
historische Biographie die Geschichte eines realen Wesens wiedergibt. Auch die
Volkswirtschaftslehre hat das Kunststück zustande gebracht, eine Wirtschaft zu
beschreiben, in der der Unternehmer – also die zentrale Figur der
Marktwirtschaft – als reales, schöpferisches und kreatives Individuum überhaupt
nicht mehr vorkommt.

In der Biographie eines einzelnen
Menschen, ob es sich um die eines Politikers, Feldherrn, Unternehmers,
Künstlers oder Religionsstifters handelt, können wir anhand von Quellen,
Tagebuchaufzeichnungen, Zeitzeugenberichten, Korrespondenzen,
Lebenserinnerungen und so weiter das Handeln eines Individuums quasi in
„Echtzeit“ beobachten. In der Literatur nennt man das Sekundenstil. Der
Forscher kann herausfinden, wann sich welche Überzeugungen einer Persönlichkeit
herausgebildet haben, wie lange jemand dafür brauchte, um bestimmte Ziele zu
erreichen, welche Aufwendungen er dafür unternehmen musste, welche
Rückwirkungen dies auf seine sozialen Beziehungen hatte, wie unerwartete
Ereignisse das Leben eines Menschen verändern und so weiter.

Durch das Studium vieler
Biographien gewinnen wir einen lebhaften „Eindruck“ vom realen Handeln. Wenn
wir das Leben vieler Bankiers studiert haben, „verstehen“ wir besser, was in
einer Bank wirklich vor sich geht. Durch das Studium des Lebens vieler Politiker
verstehen wir besser, welche Regeln im politischen Geschäft gelten. Unter
Anwendung des Vorwissens aus logischen Handlungsmodellen und den Erkenntnissen
der Psychologie können wir dies besser einordnen und interpretieren.

Die Organisations- und Unternehmenssoziologie

Die Erweiterung des
biographischen Ansatzes ist die 
Beschreibung der Entwicklung und Geschichte von Unternehmen und
Organisationen. Das Individuum erreicht seine Ziele im und durch den Aufbau von
Organisationen. Das Studium der Geschichte und Soziologie von Organisationen
ist deshalb für eine integrale Wissenschaft vom Menschen und seinem Handeln von
zentraler Bedeutung. Das Untersuchungsfeld reicht vom prähistorischen Stamm bis
zum Weltkonzern und zur Verwaltung des modernen Staates.

Besondere Bedeutung für das
Verständnis von Wirtschaft hat natürlich die Unternehmensgeschichte. Die
Unternehmensgeschichte ist quasi die Biographie eines Unternehmens, wie die
Organisationsgeschichte die Biographie einer Organisation ist. Sie beschreibt,
wie eine Organisation entsteht, wie sie sich entwickelt, die Konflikte
innerhalb des Unternehmens, die Erfolge und Rückschläge und so weiter.

Die Beschreibungen eines
Bankhauses,  eines Rohstoffkonzerns,
einer Eisenbahnlinie, einer Wohlfahrtsorganisation, einer Teilstreitkraft,
eines Geheimdienstes, der Mafia et cetera und der Biographien von Menschen, die
sich in diesen Organisationen bewegten und sie prägten, erlauben uns eine Nähe
zum Gegenstand, der nur von der eigenen praktischen Erfahrung übertroffen wird.

Länder-, Weltökonomie und Epochen

Nun kann ich den Blick zeitlich
und räumlich noch weiter ausdehnen. Wenn ich ihn über das Individuum, sein
Netzwerk und die Organisationen hinweg räumlich ausdehne, dann gelange ich auf
die Ebene der Länderökonomien oder Volkswirtschaften.

Die Betrachtung kann jeden
x-beliebigen geographischen Raum umfassen, sei es eine Provinz, ein Land, ein
Großraum oder gar die ganze Welt. Es kann auch ein bestimmter Teilbereich
dieser geographischen Räume sein, wie das Verkehrswesen in Europa, die
demographische Entwicklung in Indien, die Migration in Afrika oder das
Bankenwesen in den USA. Ich kann den Betrachtungsraum auch zeitlich ausdehnen
über die Lebensspanne eines einzelnen Individuums und einer Organisation hinaus,
dann beschreibe ich eine Epoche.

Wir bewegen uns also auf drei
Ebenen: Dem Individuum und seinem Lebenslauf, der Organisation und seiner
Entwicklung, und dem Raum und seiner Geschichte. Die Rückkopplung an die
logische Ökonomie und Psychologie hilft uns auf jeder der beschriebenen Ebenen,
hinter dem Wust der Fakten Kausalbeziehungen und psychologische Muster
aufzudecken, die uns helfen, das Geschehen zu verarbeiten und zu verstehen. „Verstehen“
ist diesem Zusammenhang das Schlüsselwort.

Der Forschungsprozess Hermeneutik

So etwas wie ein
gesellschaftliches Wissen gibt es nicht. Erkenntnisse sind immer in den
Gehirnen von Individuen verankert. Die Einheit des Wissens wird nun dadurch
hergestellt, dass sich der Mensch Erkenntnisse dieser verschiedenen Felder aneignet
und in das Gesamtbild in seinem Kopf integriert und sein Verständnis von der
Welt schrittweise erweitert.

Diese Aneignung von Wissen durch
die wechselnde Beschäftigung mit Fragen der logischen Ökonomie, der Psychologie,
Anthropologie, Geschichte und Soziologie beschreibt einen hermeneutischen
Zirkel. Am Anfang steht ein gewisses Vorwissen über die Materie, mit der man
sich befasst. Im Laufe unserer Beschäftigung mit der Materie, mit den von
anderen formulierten Standpunkten, Schriften und Ideen, erweitert sich unser Verständnis
und wir korrigieren unser Vorwissen. Unser Bild von der Wirklichkeit erreicht
eine neue Stufe sowohl der Klarheit als auch der Komplexität. 

Die Einheit des Wissens als Leitfaden der
Wissensaneignung

Der fortschreitende Erkenntnisprozess
sollte nicht zu der Hybris führen, dass am Ende ein abgeschlossenes Modell
entsteht, mit dessen Hilfe man die Gesellschaft perfekt planen kann.

Es geht vielmehr um die Befähigung
des Individuums, sich selbständig und gezielt Wissen anzueignen und sein Verständnis
von der Welt zu erweitern. Die kritisch-verstehende Auseinandersetzung mit der
Welt befähigt das Individuum, herrschende Dogmen zu hinterfragen und
Entscheidungen auf der Grundlage begrenzten, aber fundierten Wissens zu
treffen.

Die Basis ist die Erkenntnis des
Sokrates, dass ich weiß, dass ich nichts weiß. Das Ziel ist nicht das absolute
Wissen, sondern ein Verfahren, das es erlaubt, intellektuelle Erfahrungen zu
sammeln, die das Denken schulen und das Wissen erweitern. Das Ideal einer „Einheit
des Wissens“, einer integralen Humanwissenschaft, bietet dafür einen wertvollen
Leitfaden.

Literatur

Edward O. Wilson: Die Einheit des
Wissens. Berlin 1998.

27. März 2012

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