Orakel und Aberglaube geben Gefühl von Sicherheit

"Wir gehen Risiken ein, wenn wir Auto fahren, Geld anlegen, den Arbeitsplatz wechseln oder uns verlieben. Die Folgen unseres Handelns mögen erfreulich sein, traurig, oder keines von beiden, vorhersehbar sind sie jedoch nur selten. Die Unberechenbarkeit ist ein unausweichlicher Bestandteil jeder menschlichen Erfahrung, und jeder löst das Problem auf seine Weise."

Das schreibt der amerikanische Psychologe Stuart A. Vyse vom Connectitut College im Vorwort seines Buches "Die Psychologie des Aberglaubens". Es beschäftigt sich vor allem mit einer dieser Möglichkeiten: Aberglaube, verpackt als Ritual oder Orakel, als Strategie, der unberechenbaren Welt etwas entgegen zu setzen, und sei es nur eine Illusion, den Lauf der Dinge kontrollieren zu können.

Der Wunsch danach, die Zukunft vorher zu sehen, ist nicht zufällig neben dem Fliegen und der Unsterblichkeit einer der großen Träume der Menschheit. Kontrollverlust und Unsicherheit sind ganz besondere Quälgeister. In kleinen Dosen serviert, werden sie von manchen noch als reizvoll wahrgenommen. In größeren Dosen aber signalisieren sie Bedrohung und machen Angst.

Wichtig fürs Überleben

Das Bedürfnis nach Kontrolle ist beim Menschen so groß, dass nicht nur einer, sondern gleich mehrere psychologische Mechanismen darauf zielen, uns die Welt so verständlich, geordnet und vorhersehbar wie möglich erscheinen zu lassen.

Das ist für sich genommen eine sehr sinnvolle evolutionäre Erfindung, denn es ermöglicht, auch kleinste potenzielle Zusammenhänge aus dem Wirrwarr der Umgebungsreize heraus zu filtern, und das kann unter Umständen Überleben sichern.

Manchmal allerdings führt das Sinn suchende Gehirn auch auf falsche Fährten. "Einige der Eigenschaften, durch die wir zu der die Erde beherrschenden Spezies wurden, sind zugleich auch die Wurzel unseres Aberglaubens", schreibt Vyse.

Entzug der Kontrolle

So durchleuchtet das Gehirn immer, aber besonders in unsicheren oder unbeeinflussbaren Situationen, die Umwelt nach Mustern und Verbindungen, die es ermöglichen sollen, die aktuelle Situation zu verstehen und zu schlussfolgern, was in der Zukunft daraus folgen könnte. Je unsicherer die eigene Lage gerade ist, desto stärker ist dieses Verhalten ausgeprägt — ohne dass es bewusst wird.

In einer US-Studie im Fachblatt "Science" etwa entzogen die Forscher den Versuchspersonen in sechs Experimenten systematisch das Gefühl der Kontrolle: Sie ließen deren Computer etwa völlig unberechenbares Feedback auf gelöste Aufgaben geben oder erinnerten die Probanden an eine Situation, in der diese sich einmal sehr hilflos gefühlt hatten. Eine weitere Gruppe von Probanden blieb dagegen in der Wahrnehmung ihrer Kontrolle unbehelligt.

Anschließend zeigten die Wissenschaftler den Teilnehmern Bilder aus vielen schwarzen und weißen Punkten. Auf manchen von ihnen ergaben diese ein Bild, etwa ein Tier oder einen Alltagsgegenstand, und andere wiederum waren völlig zufällig zusammengestellt.

Zeitliche Zusammenhänge

Die Gruppe der Probanden, welche vorher verunsichert worden war, sah weitaus mehr Bilder in den Punkten — selbst in denen, die für die nicht verunsicherte Gruppe offensichtlich kein Bild enthielt.

Außerdem glaubten die Verunsicherten eher Muster in zufällig ausgewählten Börsendaten zu erkennen und entwickelten schnell Überzeugungen, dass ihr Handeln im Experiment doch einen Einfluss auf das Ergebnis gehabt habe.

Dass die Illusion der Kontrolle kommt, selbst wenn man keinerlei Einfluss auf den Ausgang einer Situation hat, hängt mit einem fundamentalen Mechanismus der Informationsverarbeitung zusammen: Zeitlich gemeinsam oder nah beieinander auftretende Ereignisse werden als kausal zusammenhängend im Gehirn gespeichert. Dieser Mechanismus ist die Grundlage alles Lernens, bei Tieren ebenso wie beim Menschen.

Grundlage des Aberglaubens

Einer der frühesten wissenschaftlichen Befunde zum Aberglauben stammt vom amerikanischen Lernforscher Burrhus Skinner. Der Psychologe veröffentliche 1948 einen Aufsatz mit dem Titel "Der Aberglaube in der Taube". Skinner setzte hungrige Tauben in eine Kiste mit einer automatischen Futterzufuhr. Alle 15 Sekunden fiel ein Futterkörnchen in die Kiste. Bereits nach wenigen Durchläufen entwickelten die Tauben bizarre Verhaltensweisen: Einige hackten ständig in eine Ecke der Kiste, andere drehten sich wie wild im Kreis oder schlugen mit den Flügeln.

Das Gehirn der Tiere hatte den Fall des Futterkörnchens mit einer Verhaltensweise verknüpft, die die Tauben zu diesem Zeitpunkt zufällig ausgeführt hatten. Obwohl die Rituale der Tauben keinerlei Einfluss auf die Futterdosierung hatten, verstärkte sich das Verhalten — denn manchmal fielen Ritual und Futterkörnchen eben doch zusammen.

Dieser Lernprozess der Konditionierung, bei der ein Reiz mit der Zeit mit einem anderen fest verknüpft wird, ist die Grundlage des Aberglaubens. Eine Studie an drei- bis sechsjährigen Kindern konnte zeigen, dass dasselbe Prinzip bei ihnen zu abergläubischen Überzeugungen führt.

Sinnlose Rituale

Die Kinder sollten einen Spielzeugclown dazu bringen, Murmeln auszuspucken, die er in seinem Bauch hatte. Ohne dass die Kinder dies ahnten, tat er das aber ohnehin automatisch alle 30 Sekunden. Die Kinder glaubten am Ende jedoch, es würde helfen, den Clown auf die Nase zu küssen oder eine Grimasse zu ziehen. Zwei Drittel der Kinder hatten ein solches Ritual entwickelt, um den Clown zu beeinflussen.

Das Erstaunliche dabei ist, dass eigentlich sinnlose Rituale und Aberglauben sich entwickeln, obwohl die Verbindung zwischen Belohnung und Verhaltensweise in der Regel recht unbeständig ist. Die sogenannte Bestätigungstendenz ist einer der Gründe dafür. Menschen neigen dazu, eine einmal gefasste Ansicht zu verteidigen. Vorfälle, die den eigenen Glauben bestärken, werden deshalb eher wahrgenommen und auch besser erinnert also solche, die die Ansicht widerlegen würden.

Schlägt ein Ritual fehl, suchen Menschen daher eher die Schuld bei sich, als den Aberglauben anzuzweifeln. Auch die Erwartung spielt eine Rolle dabei, wie Umweltereignisse wahrgenommen werden. Studien zur Belastbarkeit von Zeugenaussagen vor Gericht etwa zeigen, dass Menschen selbst bei bestem Wissen und Gewissen nicht sehr gut darin sind, Ereignisse genau so zu schildern, wie sie passiert sind.

Aberglaube bei Sportlern

Aufrecht erhalten wird ein Aberglaube auch durch das, was Psychologen die Verfügbarkeitsheuristik nennen. Sie besagt, dass Menschen leichter zugängliche Informationen für zuverlässiger halten als solche, die schwerer zugänglich sind. Einfach ausgedrückt bedeutet es, dass ein Aberglaube, der gesellschaftlich bereits verbreitet ist, recht schwer abgewehrt werden kann.

Die soziale Gruppe kann ebenfalls ein wichtiger Faktor dafür sein, Rituale oder abergläubische Gewohnheiten zu entwickeln und für sich selbst anzunehmen. Gruppen neigen besonders dann zum Aberglauben, wenn der Ausgang ihrer gemeinsamen Unternehmung stark von äußeren Bedingungen abhängt.

Deshalb sind Seeleute, Bauern, Soldaten, Schauspieler oder Sportler abergläubischer als andere Berufsstände. Fußballprofi Miroslav Klose etwa soll beim Anziehen vor einem Spiel ein festes Ritual entwickelt haben, und immer mit dem rechten Fuß zuerst das Spielfeld betreten. Auch Golfprofi Tiger Woods ist abergläubisch: Er trägt am letzten Turniertag stets ein rotes Hemd.

Freitag, der 13.

Tatsächlich kann ein Aberglaube trotz objektiver Sinnlosigkeit dabei helfen, Aufgaben besser zu bewältigen. Das fand eine Studie der Universität Köln heraus, die Versuchsteilnehmer für die Wissenschaft Golf spielen ließ. Die eine Gruppe bekam einen "Glückball", die andere einen "normalen" Golfball. Die Probanden mit dem Glücksball waren nicht nur zuversichtlicher und konzentrierter, sie trafen im Durchschnitt auch deutlich häufiger.

Doch Vorsicht: Solche sich selbst erfüllenden Prophezeiungen funktionieren in beide Richtungen. Wer glaubt, dass sein Talismann Glück bringt, geht zuversichtlicher an eine Aufgabe und fühlt sich sicherer. Und wer glaubt, dass Freitag, der 13. kein guter Tag ist, um eine Bewerbung für einen Job abzuschicken, sollte es vielleicht auch nicht tun.

Aberglauben ist menschlich, schreibt Stuart A. Vyse in einer Schlussbemerkung. Er sollte deshalb nicht ganz pauschal verurteilt werden, so der Psychologe. "Es ist leichter, abergläubisch zu sein, als dies zuzugeben."

Schröte

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