Numerus-clausus-Urteil Berlin bald zulassungsfrei?

Höchste Eisenbahn für den Berliner Senat. Der muss schnellstens auf ein Urteil des Landesverfassungsgerichts reagieren, mit dem dieses den Numerus Clausus (NC) für ein Studienfach an der Humboldt-Universität (HU) gekippt hat. Das Problem geht indes weit über den Einzelfall hinaus und betrifft nicht nur die Hauptstadt, sondern auch andere Bundesländer. Vielleicht ist der Richterspruch gar der Anfang vom Ende für den NC.

Besagten Beschluss hat der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin bereits kurz vor Weihnachten veröffentlicht (20.12.2011, VerfGH 28/11; siehe auch Pressemitteilung). Mit ihm gaben die Richter der Verfassungsbeschwerde zweier abgelehnter Bewerberinnen für den Bachelor-Studiengang Psychologie an der HU statt. Die Fälle müssen nun von neuem vor dem Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg aufgerollt werden. Dort waren die Beschwerdeführerinnen schon einmal mit Entscheiden vom 12. Januar 2011 abgeblitzt, nachdem zuvor bereits das Verwaltungsgericht Berlin ihre Forderung nach vorläufiger Zulassung "außerhalb der festgesetzten Aufnahmekapazität" abgewiesen hatte.

Auslöser des Rechtsstreits war ihr gescheiterter Versuch, zum Wintersemester 2009/10 im damals neu eingerichteten Studiengang "Bachelor of Science Psychologie" unterzukommen. Die vorhandenen 90 Studienplätze wären nach Wartezeit und Durchschnittsnoten an rangbessere Bewerber vergeben worden, begründete seinerzeit die HU die Ablehnung. Die Abgewimmelten sahen damit ihr Grundrecht auf Berufsfreiheit und freie Wahl des Ausbildungsplatzes verletzt und beschritten den Rechtsweg.

Urteil mit bundesweiten Folgen?

"Mit großer Freude" haben auch Berliner Studierendenvertreter die Nachricht aufgenommen. Nach ihrer Einschätzung berührt der Beschluss alle Bachelor- und Masterstudiengänge, die zulassungsbeschränkt sind. Für sie alle habe es "kein gesetz- und verfassungsgemäßes Verfahren zur Zulassungsbeschränkung" gegeben, heißt es in einer Stellungnahme der Landes-Asten-Konferenz (LAK) Berlin. Unter der Überschrift "Berlin jetzt zulassungsfrei" fordern die Verfassten Studierendenschaften die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft auf, "unverzüglich ein geeignetes und den Vorgaben entsprechendes Verfahren" unter Beteiligung der Studierenden zu entwickeln. Auch müsse "künftig auf sämtliche Notverordnungen und Staatsnotstandsbehauptungen" verzichtet werden, "diese greifen laut diesem Urteil schlichtweg nicht". Überdies werde man "keine weiteren einvernehmlichen Absprachen" zwischen der Senatsverwaltung und den Hochschulpräsidien tolerieren, liest man in der Erklärung.

Die darin anklingende Euphorie könnte durchaus berechtigt sein. Auch Andreas Keller, Vorstandsmitglied bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), sieht das Urteil mit Genugtuung. Den Hochschulen sei "nicht bewusst, dass sie mit der Abweisung von Studienbewerbern in ein Grundrecht eingreifen", sagte er gegenüber Studis Online. Derartige Eingriffe müssten auf ein "Gesetz oder mindestens eine Rechtsverordnung gestützt werden". Dieser Grundsatz werde aber seit der Umstellung auf Bachelor und Master nicht nur in Berlin, sondern vielerorts missachtet. Auf lange Sicht gehe es darum, ausreichend viele, also den Bedarf deckende Studienplätze zu schaffen, damit keiner mehr abgewiesen werde müsse. "Aber solange sie knapp sind, müssen sie nach demokratischen, transparenten und rechtsstaatlichen Kriterien vergeben werden«, betonte Keller. Diese Anforderung werde aber nach Auffassung der Verfassungsrichter nicht erfüllt.

Numerus clausus sollte Ausnahme sein

Tatsächlich lehnt sich der Gerichtshof in seiner Begründung in weiten Teilen an die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) an. Dieses hatte in seinem NC-Urteil im Jahr 1972 aus dem Grundrecht der Berufsfreiheit, dem Gleichheitssatz sowie dem Sozialstaatsprinzip ein allgemeines Recht auf Zulassung zum Hochschulstudium abgeleitet. Absolute Zulassungsbeschränkungen zum Studium sind demnach nur unter bestimmten und streng reglementierten Umständen rechtens. Zumindest für Berlin lässt sich jetzt sagen, dass es die Verantwortlichen damit nicht so genau genommen haben. Nach dem Urteil der Landesverfassungsrichter sind Beschränkungen nur "unter strengen formellen und materiellen Vorraussetzungen statthaft", bedürften einer "gesetzlichen Grundlage und sind nur dann verfassungsgemäß, wenn sie zum Schutz eines überragend wichtigen Gemeinschaftsguts (...) und nur in den Grenzen des unbedingt Erforderlichen" angeordnet werden.

Aus diesen Vorgaben ergibt sich, dass die Hochschulen für jeden einzelnen Studiengang und faktisch jedes Jahr von neuem berechnen müssen, welche Studienplatzkapazität sie mit dem vorhandenen Personal- und Raumangebot offerieren können. Entscheidend bei der Kalkulation ist dabei die sogenannte Curricularnorm, nach welcher der Aufwand zu ermitteln ist, der nötig ist, einen Studierenden auszubilden. Auf diesem Wege sei "eine gleichmäßige und erschöpfende Auslastung der Hochschulen zu gewährleisten", fordern die Richter. Allerdings – und das ist die Crux an der Sache – schreibt das Berliner Landesrecht zwingend vor, dass der Normwert für jedes Fach vom Senat per Rechtsverordnung festzusetzen ist. Die Richter gehen noch weiter und empfehlen bei einem so wichtigen Eingriff in das Grundrecht auf Berufsfreiheit gar ein Gesetz, um den juristischen Anforderungen zu genügen.

In der Hauptstadt Berlin fehlt es an beidem, einem Gesetz und einer Rechtsverordnung – und das nicht nur im fraglichen Fach Psychologie an der HU, sondern wohl bei sämtlichen Bachelor- und Master-Studiengängen an allen Hochschulen. Nach einem Bericht des Berliner Tagesspiegel vom 4. Januar hat dies auch der für Lehre zuständige HU-Vizepräsident Michael Kämper-van den Boogaart erkannt. Der Beschluss beziehe sich auf eine "Praxis, die in den letzten Jahren in ganz Berlin und bundesweit bestand", soll er zu Jahresanfang in einer Sitzung des Akademischen Senats der HU konstatiert haben. Die Senatverwaltung müsse sich umgehend daranmachen, den beanstandeten Mangel zu beheben. Andernfalls "sehe ich für das kommende Semester größere Schwierigkeiten bei der Zulassung voraus", so der HU-Vize.

Keine Sorge beim Bildungssenat

Aber wie konnte es soweit kommen? Die Ursache dafür liegt schon einige Jahre zurück. Die für die Fächer in den alten Diplom- und Magisterstudiengängen einst geltenden Curricularnormwerte wurden bei der Einführung von Bachelor und Master kurzerhand auf die neuen Studiengänge umgerechnet, ohne sie per Verordnung juristisch wasserdicht zu machen. Und weil die Verwaltungsgerichte in entsprechenden Streitfällen dem Vorgehen bisher stets ihren Segen gegeben hatten, sahen die Verantwortlichen keinen akuten Handlungsdruck. Auch jetzt gibt man sich bei der Senatsbildungsverwaltung betont gelassen. Man halte das Problem für "heilbar", zitierte der Tagesspiegel am Dienstag eine Sprecherin von Wissenschaftssenatorin Sandra Scheeres (SPD). Man sei zuversichtlich, dass eine klagesichere Lösung bis zum Wintersemester für alle NC-Fächer erarbeitet werden könne.

Offenbar glaubt die Senatorin, die zutiefst restriktive Zulassungspraxis in Berlin mit seinem inzwischen fast flächendeckenden NC durch eine kleine Formalität rechtssicher machen zu können. Nach Ansicht des Münsteraner Rechtsanwalts Wilhelm Achelpöhler kann dieses Kalkül langfristig nicht aufgehen. Für ihn ist das jüngste Gerichtsurteil deshalb so bedeutsam, weil es hohe Ansprüche an ein Regelwerk zur Hochschulzulassung stellt, "die mit der Realität so gar nicht im Einklang stehen". Das Bundesverfassungsgericht, an dessen Rechtsprechung die Berliner Richter anknüpften, habe den Numerus clausus als absolute Ausnahme am Rande des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren deklariert. Mittlerweise sei der NC aber zum "Allgemeinzustand" geworden, und "durch das künstlich verknappte Lehrangebot findet eine dauernde Beeinträchtigung des Grundrechts der Berufsfreiheit junger Menschen statt".

Mit Urteil droht bürokratisches Monster

Zwar wäre der NC durch das Urteil nicht grundsätzlich in Frage gestellt, führte Achelpöhler aus. Aber die Richter hätten die Latte der normativen und verfassungsrechtlichen Anforderungen so hoch gelegt, daß deren Einhaltung mit einem "wahnsinnigen Aufwand" verbunden sei. "Sogar für den putzigsten Bachelorstudiengang müßte in Zukunft ein Curricularnormwert ermittelt werden, der dann im Ernstfall auch noch vor Gericht bestehen müßte. Da lauert ein bürokratisches Monster und eine Flut an erfolgversprechenden Klagen", sagte der Rechtsanwalt voraus. Zumal die Richter den vorgelagerten Gerichtsinstanzen aufgetragen hätten, in Streitfällen "konsequent bis zum Ende durchzuprüfen". Die "einzig vernünftige Alternative" besteht für Achelpöhler darin, "die künstliche Verknappung zu beenden, indem man den Hochschulen endlich die Finanzmittel zuteilt, die es braucht, um jedem Bewerber einen Studienplatz zu garantieren".

Und was ist bis dahin zu tun? Die Aussichten, sich erfolgreich in einen Studiengang zu klagen, dürften mit dem Urteil der Berliner Verfassungsrichter deutlich besser geworden sein. Das sehen auch die Studierendenvertreter der LAK Berlin so. Sie fordern Betroffene dazu auf, sich so schnell wie möglich beraten zu lassen. "Allen, die ein Studium in Berlin aufnehmen sollen, möchten wir einmal mehr Mut machen, gegen eine Ablehnung vorzugehen". Rat finden könne jeder bei den ASten der einzelnen Hochschulen Berlins.

Und auch in anderen Bundesländern könnten sich Klagen lohnen. Zwar hat das aktuelle Urteil keinerlei direkte Wirkung auf andere Bundesländer: was ein Landesgericht entscheidet, ist nun mal nur im jeweiligen Land direkt relevant. Aber die Argumentation scheint durchaus übertragbar zu sein, sofern auch andere Bundesländer "vergessen" haben, eine saubere rechtliche Grundlage für die Zulassungsbeschränkungen bei Bachelor- oder auch Master-Studiengängen zu schaffen. Was zumindest teilweise der Fall zu sein scheint. (rw)


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