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Nicht das Gehirn ist bedrückt, sondern der Mensch

Von Daniel Hell.
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Psychische Probleme passen selten in Diagnosekästchen. Das macht sie nicht weniger schwerwiegend, selbst wenn keine eindeutigen organischen Veränderungen feststellbar sind.

Nach Depressionen mit neurobiologischen Tests zu suchen, ist falsch, sagt Daniel Hell. Foto: Oli Scarff (Getty Images)

Nach Depressionen mit neurobiologischen Tests zu suchen, ist falsch, sagt Daniel Hell. Foto: Oli Scarff (Getty Images)

IV-Bezüger im Hirnscanner
Luzern führt sein Projekt weiter

Die IV-Stelle Luzern klärt Gesuche unter anderem mithilfe von Hirnscans (MRI) und Hirnstrommessungen (EEG). Dies zusätzlich zur herkömmlichen psychiatrischen Begutachtung. 2013 wurden 60 Fälle auf diese Weise untersucht. Fachleute und Betroffene kritisierten das Anfang Jahr publik gewordene Projekt. Es soll dennoch wie geplant weitergeführt werden, wie IV-Luzern-Direktor Donald Locher auf Anfrage bestätigt. (fes)

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Die Luzerner IV versucht psychische Erkrankungen mittels neurobiologischer Testverfahren im Einzelfall festzulegen. Sie stützt sich dabei unter anderem auf ein schwer überprüfbares Analyseprogramm eines privaten Anbieters, offensichtlich in der Hoffnung, damit auch zwischen arbeitsfähig und arbeitsunfähig abgrenzen zu können. Das widerspricht dem internationalen Forschungsstand. Kein bildgebendes, molekularbiologisches oder elektrophysiologisches Verfahren hat eine Aussagekraft erreicht, um als eindeutiger biologischer Marker zu dienen und einen Menschen beispielsweise als depressiv zu bestimmen. Dieses IV-Vorgehen widerspiegelt eine Problematik, die mit Spardruck zu tun hat, letztlich aber weit darüber hinausgeht und mit modernen kulturellen Vorstellungen und Ideologien zusammenhängt. Das IV-Vorgehen scheint mir selber Symptom einer Fehlentwicklung zu sein.

Es ist üblich geworden, psychische Probleme wie eine Sache, eine Organ- oder eine Funktionsstörung zu beurteilen. Ein depressives Leiden etwa drückt sich aber primär durch ein verändertes Erleben und Verhalten aus. Die Ursache dafür kann ganz verschieden sein. Damit wir überhaupt vom Befinden reden können, kennt die Sprache allgemeine Ausdrücke wie angstgeplagt oder deprimiert. Sie verfügt aber auch über differenziertere Mittel, um ein Erleben und seine Hintergründe auszudrücken. So kennt die Literatur unendlich viele Darstellungen depressiven Leidens, darunter so bekannte wie die Schwermut Hamlets, das Leiden Werthers, die tiefe Kränkung von Madame Bovary und der gebrochene Stolz und die Verzweiflung von Anna Karenina. Alle diese literarischen Figuren erfüllten die Kriterien einer depressiven Episode, wenn ihnen ein aktuelles Diagnoseraster übergestülpt würde. Doch stehen diese grossartig geschilderten Personen nicht für etwas ganz anderes, etwa für persönliches Scheitern, für die Bedeutung von Status und Geschlecht unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen sowie für existenzielle Sinn- und Wertfragen?

Keine scharfe Grenze

Die verschiedenen Arten von Depressionen haben aber nicht nur verschiedene Gesichter, sondern sie sind auch keine natürlichen Krankheitseinheiten. So können depressive Symptommuster zum Beispiel nicht scharf von gesunder Trauer oder von normalen Verstimmungen abgegrenzt werden. Sie wachsen aus dem Gesunden heraus und gehen in andere Störungen über. Diese Uneinheitlichkeit des depressiven Bildes (des sogenannten Phänotyps) kann teilweise erklären, dass bisher keine einheitliche organische Veränderung (etwa ein Genotyp oder ein biologischer Marker) gefunden werden konnte. Die heutigen Klassifikationssysteme in der Psychiatrie beruhen auf klinischen Beobachtungen. Sie stellen ein Verständigungsmittel dar, das nicht nur Ärzte, sondern auch das Gesundheitswesen und eine weitere Öffentlichkeit benötigen. Und auch wenn diese hauptsächlich psychologischen beziehungsweise psychopathologischen Beschreibungen entsprechen, bringen sie doch bestimmte Leidensformen zum Ausdruck, die genau so gravierend sein können wie organische Defizite.

Allerdings führt die technisch-wissenschaftliche Kultur unserer Zeit und die Dominanz der Visualisierung immer mehr dazu, Diagnostik mit Abbildbarkeit gleichzusetzen. Doch hat das Erleben, etwa von Stimmungen, eine eigene Qualität, die nicht in Optischem aufgeht. Viele Menschen machen die Erfahrung, dass ihnen Musik als Hörerlebnis – zum Beispiel das g-Moll-Quintett von Mozart – eine depressive Stimmung viel eingängiger und stimmiger nahebringt als eine bildnerische Darstellung oder gar die physikalische Abbildung der Tonsequenzen dieser Musik.

Die Macht der Bilder trägt aber heute dazu bei, dass ein subjektives Erleben mehr zählt, wenn es visualisiert werden kann. Dabei geht leicht vergessen, dass die Revolution der bildgebenden Verfahren in der Medizin im Grunde eine digitale beziehungsweise rechnerische ist. Auch der diagnostische Umbruch in der Psychiatrie, der 1980 mit dem Diagnosehandbuch DSM-III einsetzte, basiert nicht in erster Linie auf neuen optischen Befunden, sondern auf statistischen Vergleichen. Damit wird zwar immer feiner berechenbar, was berechenbar ist. Aber dem Erleben des Einzelnen kommt man damit nicht wirklich näher.

Mythologisierung des Gehirns

Trotzdem werden statistische Zusammenhänge oft wie Realitäten behandelt, etwa wenn aus einer statischen Korrelation zwischen bestimmten Symptomen und bestimmten Hirnaktivitäten geschlossen wird, dass Symptomerleben und Hirnvorgänge das Gleiche sind. Dabei zeigt gerade die fortgeschrittene Analyse von Hirnstrombildern, dass jeder Mensch über ein eigenes Aktivitätsmuster im Gehirn verfügt, das von Konstitution, Biografie und aktueller Lebenssituation abhängt. Es lassen sich zwar im statistischen Vergleich verschiedener Menschen gemeinsame Tendenzen je nach Stimmungslage finden, doch ist das Individuelle so dominierend, dass eine aussagekräftige Diagnose zum Beispiel von Depressionen aufgrund von Normwerten nicht möglich ist.

Die Überinterpretation psychiatrischer Diagnosen (etwa als Hinweise auf umschriebene Hirnfunktionsstörungen) oder die Überbewertung statistischer Wahrscheinlichkeiten (etwa als für den Einzelnen gültige Realität) kann die psychische Problematik eines Patienten noch verschlimmern, gerade im Falle eines IV-Bewerbers, der das Pech hat, dass sich seine Leidensform weder biotechnisch noch in statistischen Testanalysen wahrscheinlich machen lässt.

Der Kurzschluss von Befindlichkeitsveränderungen auf klassifizierbare Gehirnstörungen wird auch durch die Nonchalance gefördert, mit der viele Neurowissenschaftler vom Gehirn wie von einer Person sprechen, das sieht, fühlt, denkt, lügt oder mitempfindet. Das Erleben wird zur Sache. Es ist aber sprachlich falsch und wissenschaftlich irreführend, wenn von einem bedrückten oder depressiven Gehirn statt von einer Person gesprochen wird. Das zeigt sich auch daran, dass niemand mit einem Gehirn, sondern nur mit einem Menschen Mitleid hat. Wehren wir uns gegen die Mythologisierung des Gehirns und verweisen die zu Recht hoch geschätzte Neurowissenschaft in ihre methodisch bedingten Grenzen. Bleiben wir auf dem Boden, auch was die Aussagekraft psychiatrischer Diagnosen betrifft.


Prof. Dr. med. Daniel Hell, langjähriger ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Uniklinik ZH, ist leitender Arzt an der Privatklinik Hohenegg und Buchautor.

(Tages-Anzeiger)

Erstellt: 15.03.2014, 08:53 Uhr


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