Neurologie und Gesellschaft

»Mein beruflicher Lebensweg begann in den ersten Jahren der Oktoberrevolution. Dieses außergewöhnliche Ereignis hat mein Leben und das aller, die ich kannte, entscheidend beeinflußt. Von vornherein war klar, daß ich zu einer geordneten und systematischen Ausbildung keine Gelegenheit haben würde. Statt dessen bot mir das Leben die stimulierende Atmosphäre einer aktiven und sich schnell wandelnden Gesellschaft. Meine ganze Generation ließ sich durch die Energie der revolutionären Veränderungen anstecken – eine befreiende Energie, die Menschen spüren, wenn ihre Gesellschaft in kürzester Zeit gewaltige Fortschritte macht.« So steht es in der Autobiographie eines der bedeutendsten Psychologen der Sowjetunion, dessen Werdegang tatsächlich von weltgeschichtlichen Ereignissen des 20. Jahrhunderts geprägt war, von der Revolution, der Stalinschen Herrschaft und deren Ende sowie vom erfolgreichen Kampf gegen den deutschen Faschismus. Die Leistung dieses Mannes besteht vor allem darin, zur Überwindung der Kluft zwischen gesellschafts- und naturwissenschaftlicher Psychologie beigetragen zu haben.

Kontakt mit Freud

Alexander Romanowitsch Lurija wurde am 3. Juli 1902 als Sohn einer Zahnmedizinerin und eines Arztes in Kasan geboren, einer etwa 1000 Kilometer östlich von Moskau gelegenen Universitätsstadt. Während die Mutter Jewgenija Wiktorewna in Polen studiert hatte, gehörte der Vater Roman Albertowitsch zu einer winzigen Minderheit unter den Juden, denen im zaristischen Rußland ein Universitätsstudium gestattet worden war. Die Familie hegte keinerlei religiöse Bindungen und sympathisierte mit der Revolution. Nach eigener Auskunft wußte Alexander in seiner Jugend allerdings noch nichts vom Marxismus, sondern fühlte sich von damals weit verbreiteten utopisch-sozialistischen Ideen angezogen. Er interessierte sich für Psychologie, sein Vater hingegen drängte auf eine ärztliche Laufbahn. Deshalb studierte er zuerst Gesellschaftswissenschaften und danach mehrere Semester lang parallel an der medizinischen und der pädagogischen Fakultät sowie an der psychiatrischen Klinik der Stadt.

Mit seinem Vater teilte Lurija das Interesse an der damals noch jungen Psychoanalyse. Nicht ohne Selbstironie erinnerte er sich später an den jugendlichen Überschwang seiner Studentenzeit. »Zuerst organisierte ich einen kleinen psychoanalytischen Zirkel. Ich bestellte sogar Briefpapier mit dem Briefkopf ›Psychoanalytische Vereinigung Kasan‹ in Russisch und Deutsch. Dann benachrichtigte ich Freud persönlich über die Bildung dieser Vereinigung und war so überrascht wie erfreut über seinen Antwortbrief. Freud drückte seine Freude darüber aus, daß in einer so weit entfernten ostrussischen Stadt ein psychoanalytischer Arbeitskreis ins Leben gerufen worden sei.«

Zu Lebzeiten Lenins konnte in der Sowjetunion weitgehend frei über wissenschaftliche Fragen diskutiert werden, so auch über die Psychoanalyse. In der Zeitschrift Unter dem Banner des Marxismus befaßten sich mehrere Beiträge, darunter einer aus der Feder Lurijas, mit der Theorie Freuds. Als die inhaltliche Grundlage des Blattes nannte Lenin ein Bündnis kommunistischer und nichtkommunistischer Materialisten und Atheisten. Es ist nicht bekannt, was Lenin persönlich über die Psychoanalyse dachte, klar ist aber, daß er ihr mindestens tolerant gegenüberstand. Seine Privatbibliothek enthielt mehrere Bände Freuds, und in seiner Verantwortung gab Otto Schmidt im sowjetischen Staatsverlag Arbeiten des Wiener Arztes in russischer Übersetzung heraus. Die Bildungsministerin Nadeshda Krupskaja stellte der Psychoanalytikerin Wera Schmidt Mittel für ein Kinderheim zur Verfügung, dessen pädagogisches Konzept wesentlich im Verzicht auf damals übliche Bestrafungs- und Einschüchterungsmethoden in der Erziehung bestand. Leo Trotzki befaßte sich publizistisch mit der neuen Lehre, seine Mitarbeiterin Raissa Epstein war Ehefrau des Freud-Schülers Alfred Adler.

Eine neue Theorie

So begeistert der junge Lurija von der Psychoanalyse war, beschränkte er sich doch keineswegs auf diese Richtung. Vielmehr waren seine Arbeiten breit gestreut, um nicht zu sagen eklektisch. Seine ersten Fachartikel über die Auswirkung von Ermüdung auf motorische Reaktionen trugen ihm 1923 eine Stelle am Psychologischen Institut in Moskau ein. Die Folgen des Bürgerkriegs und der noch aus der Zarenzeit überlieferte Rückstand der Wissenschaftsentwicklung waren noch spürbar. »Die Mitarbeiter waren jung und unerfahren«, erinnerte sich Lurija später. »Niemand war älter als 24 Jahre, und nur wenige hatten eine angemessene Ausbildung, doch an Enthusiasmus fehlte es keinem. Viele Projekte zur Reaktionsforschung standen zur Auswahl: Weiße Mäuse liefen durch Labyrinthe, sorgfältig wurden unterschiedliche motorische Reaktionen erwachsener Probanden untersucht, und auch Ausbildungsprobleme wurden beachtet. (…) Ich war nicht älter als meine Studenten und wußte nicht mehr als viele von ihnen. Deshalb verbrachte ich die Abende mit der Vorbereitung des Stoffes für den nächsten Unterrichtstag, in der Hoffnung, wenigstens einen Tag Vorsprung zu halten.«

Im darauffolgenden Jahr traf Lurija seinen mit Abstand wichtigsten akademischen Lehrer. Lew S. Wygotski, der zunächst als Literaturwissenschaftler mit einer Dissertation über Shakespeares »Hamlet« bekanntgeworden und sozusagen als Quereinsteiger zur Psychologie gekommen war, wechselte von seiner Arbeitsstelle im belorussischen Gomel bei Minsk ans Moskauer Institut. Sein Forschungsprogramm läßt sich, stark vereinfacht, folgendermaßen formulieren: Während die genannte »Reaktionsforschung« in der Tradition Iwan Pawlows, Wladimir Bechterews und des US-amerikanischen Behaviorismus elementare Lernformen studierte, blieben komplexere psychische Phänomene der Philosophie überlassen. Wygotski wollte diese Kluft schließen. Er nannte seinen Ansatz eine »Theorie der höheren psychologischen Funktionen« und unterschied zwischen dessen instrumentellen, kulturellen und historischen Aspekten. Ihm zufolge reagieren Menschen nicht nur auf Reize, sie setzen sich vielmehr selbst welche, um das eigene Verhalten zu steuern. Ein Beispiel dafür ist ein Knoten, den man in ein Taschentuch macht, um sich später an etwas zu erinnern. »Kulturell« sind einerseits die Anforderungen, die eine Gesellschaft insbesondere an die kindliche Entwicklung stellt, andererseits sind es die bereitgestellten Mittel zur Erfüllung dieser Anforderungen. Wygotski betonte hier vor allem die von der Schule vermittelten – und in der frühen Sowjetunion noch keineswegs allen zugänglichen – Wissenstechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Und schließlich hob er hervor, daß Verhalten und Kultur eine Geschichte haben, die nicht zuletzt vom Stand der Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen abhängt.

Obwohl Wygotski ein entschiedener Vertreter des historischen Materialismus war, zögerte er jedoch, von einer »marxistischen Psychologie« zu sprechen. »Mögen lieber andere von unserer Psychologie sagen, sie sei marxistisch, als daß wir sie selbst so nennen«, schrieb er. »Wenden wir den Marxismus in unserem Tun an, und gedulden wir uns mit den Worten. Schließlich und endlich, eine marxistische Psychologie gibt es noch nicht. Sie ist als historische Aufgabe zu verstehen, nicht als etwas Gegebenes.« Er fügt noch einen anderen Gedanken hinzu, der gegen diesen Ausdruck spricht. »Wir werden doch in der Tat unsere Biologie nicht darwinistisch nennen. Die Anerkennung der bedeutendsten Konzeptionen gehört einfach dazu. Ein marxistischer Historiker würde niemals den Titel ›Marxistische Geschichte Rußlands‹ wählen. (…) Marxistisch betrachtet er als Synonym für wahr und wissenschaftlich. (…) Auch wir müssen die Dinge so sehen. Unsere Wissenschaft wird in dem Grade zu einer marxistischen, wie sie zu einer wahren und wissenschaftlichen wird. (…) Die marxistische Psychologie ist nicht eine Schule unter anderen, sondern die einzige wahre Psychologie als Wissenschaft. (…) Und umgekehrt: Alles, was es in der Psychologie an wirklich Wissenschaftlichem gegeben hat und geben wird, geht in die marxistische Psychologie ein.«

Nach Usbekistan

Ihr Forschungsprogramm verwirklichten Wygotski und Lurija in zahlreichen Untersuchungen. Wygotski widmete sich vor allem der kindlichen Entwicklung und insbesondere auch Störungen dieser Entwicklung im Zusammenhang mit Krankheit und Behinderung. Seine Aufmerksamkeit für historisch entstandene Kulturtechniken eröffnete ihm die Perspektive, beispielsweise für blinde und gehörlose Kinder in umfassender Weise »Nebenwege der kulturellen Entwicklung« zu schaffen. Gemeint ist etwa die Braille-Schrift als vollwertiger Ersatz für visuelle Zeichen. Auch die sozialen Beziehungen bedurften einer Veränderung. Wygotski forderte, der kommunistische Jugendverband Komsomol solle blinde Kinder aufnehmen, und die Sonderschulen sollten mit dem regulären Schulsystem verbunden werden. Heute würde man wohl von »Barrierefreiheit« und »Inklusion« sprechen. Mit seinen Ideen war Wygotski der Welt um mehr als ein halbes Jahrhundert voraus. Er prophezeite, der Pädagogik werde es eines Tages peinlich sein, von einem »defektiven Kind« zu sprechen, weil »das ein Hinweis darauf sein könne, es handele sich um einen unüberwindbaren Mangel seiner Natur«.

Lurija bereitete ab 1929 eine großangelegte kulturvergleichende Untersuchung vor, die Wygotskis Theorie in anderer Hinsicht fundieren sollte. Mehrere Expeditionen nach Usbekistan (mit Abstechern nach Kirgisien) sollten zeigen, wie die dortigen Alphabetisierungs- und Bildungskampagnen das begriffliche Denken der Landbevölkerung veränderten. Lurija griff damit einerseits ein Thema auf, das auch in Soziologie, Ethnologie und Linguistik erörtert wurde, andererseits wandte er sich gegen rassistische Auffassungen, die »unterentwickelte« Völker für »primitiv« erklärten und ihnen per Testverfahren eine geringe Intelligenz bescheinigten. Die überlieferten Verhältnisse in der mittelasiatischen Sowjetrepublik beschrieb er so: »Usbekistan ist ein Land mit einer sehr alten, ehemals hochstehenden Kultur. Davon zeugen die prachtvollen Architekturdenkmäler in Samarkand, Buchara und Choresm sowie die glanzvollen Leistungen in Wissenschaft und Poesie, die mit Namen verbunden sind wie (…) Ibn Sina (Avicenna), dem Arzt; mit den Namen der Dichter Sa’di, Nisami u. a. Typisch für die feudale Gesellschaft war jedoch, daß das Volk unwissend blieb, völlig von (…) großen Feudalherrn abhing und individuelle Wirtschaften mit fast ausschließlich naturalwirtschaftlichem Charakter betrieb.« Die Revolution verändere die Verhältnisse jedoch grundlegend. »In unseren Untersuchungszeitraum fiel nicht nur der Beginn der Kollektivierung der Landwirtschaft (…), sondern auch die Anfangsetappe der Emanzipation der Frauen.«

Lurija und Kollegen befragten vier Personengruppen, analphabetische Frauen, deren Tätigkeit weitgehend aufs Haus beschränkt wurde, analphabetische Bauern, Kindergärtnerinnen, die Schnellkurse absolviert hatten, und Studentinnen. Die Gespräche begannen zwanglos »in der Teestube (in der die Dorfbewohner einen großen Teil ihrer Freizeit verbringen), in den Feldlagern oder am abendlichen Lagerfeuer auf den Gebirgsweiden«. Allmählich wurden bestimmte Aufgaben in das Gespräch eingeführt, die »in ihrer Form an die in der Bevölkerung verbreiteten ›Rätsel‹« erinnerten. Man bat die Personen, Kategorien zu bilden, also etwa Farben zu bezeichnen, Gegenstände abstrakten Begriffen zuzuordnen, Menschen und Gefühle zu beschreiben oder Schlußfolgerungen zu ziehen. Wer keine Gelegenheit zur Schulbildung hat, so der zentrale Befund, beschränkt sich in seinen Urteilen auf die unmittelbare Erfahrung und eine bildhafte Sprache. Zur Benennung von Farben werden Wörter wie »tabakfarben«, »mohnfarben« oder »wie dunkler Zucker« bevorzugt. Abstrakte politische Begriffe bereiten Schwierigkeiten. Eine 18jährige antwortet auf die Frage, was Freiheit sei: »Ich habe gehört, daß die Frauen die Freiheit erhalten haben, mehr weiß ich nicht«. Logische Aussagen werden als empirisches Problem aufgefaßt. Ein Bauer soll zu folgendem Syllogismus Stellung nehmen: »Im hohen Norden, wo Schnee liegt, sind die Bären weiß. Nowaja Semlja liegt im hohen Norden, und dort ist immer Schnee. Welche Farbe haben dort die Bären?« Er sagt: »Ich weiß nicht, ich habe mal einen schwarzen Bären gesehen, andere noch nicht. (…) Euer Zar ist dem unseren nicht ähnlich und unserer nicht dem euren. Auf Ihre Worte kann nur jemand antworten, der das gesehen hat. Wer es nicht gesehen hat, kann nichts dazu sagen.«

Obwohl Lurija in seiner Arbeit die Erfolge des sowjetischen Bildungswesens betonte, indem er die andere Art des Urteilens bei Kindergärtnerinnen und Studentinnen darstellte, fielen die Reaktionen aus der Partei auf seine Arbeit eher negativ aus. Man warf ihm eine herabsetzende Darstellung der Usbeken und russischen Chauvinismus vor. Im Zuge der Auseinandersetzung gerieten seine und Wygotskis Theorien unter Beschuß, und er verlor schließlich seinen Posten. Die Zeit der freien Debatte ging zu Ende. In schier endlosen Kampagnen wurden Konkurrenzkämpfe in Partei und Wissenschaft ausgetragen, angefangen mit der scharfen Verurteilung und Absetzung des Chefredakteurs der Zeitschrift Unter dem Banner des Marxismus, Abram Deborin, 1931. Kontrahenten wurden mit philosophischen und politischen Begriffen gebrandmarkt, die einander teilweise widersprachen: Hegelianismus, Feuerbachismus, Menschewismus, Trotzkismus, Bucharinismus usw. 1936 folgte ein Parteibeschluß gegen die »pädologischen Perversionen«, wobei Pädologie eine interdisziplinäre Bezeichnung für die Wissenschaft vom Kind war. Die Russische Psychoanalytische Vereinigung, deren Sekretär Lurija gewesen war, hatte man bereits einige Jahre zuvor aufgelöst. Die Schriften Wygotskis, der 1934 an den Folgen einer Tuberkulose gestorben war, kamen auf den Index, unter anderem, weil er einen in Ungnade gefallenen Bolschewiki wie Trotzki zitiert hatte. Dabei scheinen die willkürlichen staatlichen Eingriffe an der »psychologischen Front« noch relativ glimpflich abgelaufen zu sein, verglichen mit der Biologie, wo die auf Irrtümern und Fälschungen beruhenden neolamarckistischen Doktrinen Tofim Lyssenkos zur verbindlichen Lehrmeinung erhoben und einige Genetiker nicht nur entlassen, sondern inhaftiert oder sogar umgebracht wurden. Lurija jedenfalls gab seine Tätigkeit als Psychologe weitgehend auf. Als vorteilhaft erwies sich allerdings, daß er sein abgebrochenes Medizinstudium wiederaufgenommen hatte und so bald ein neues Forschungsfeld fand.

Die »romantische« Wissenschaft

Nach dem faschistischen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurde Lurija Sanitätsoffizier in der Roten Armee und beauftragt, im südlichen Ural, bei Tscheljabinsk, eine Klinik zur Behandlung und Rehabilitation hirnverletzter Patienten einzurichten. Beteiligt waren ebenfalls die heute in Fachkreisen bekannten Psychologen Bluma Zeigarnik und Sergej Rubinstein. Lurijas Ehefrau Lana, eine Biologin, arbeitete dort als Krankenschwester. Unter diesen Bedingungen fand Lurija Gelegenheit, Forschungen fortzusetzen, die er bereits unter der Leitung Wygotskis begonnen hatte. Gemeinsam hatten sie Patienten mit neurologischen Beeinträchtigungen untersucht, um einerseits Therapien entwickeln zu können und um andererseits aus dem Ausfall höherer psychologischer Funktionen (wie etwa Teilen des Sprachvermögens) Rückschlüsse auf deren üblichen Leistungen zu ziehen. Besondere Verdienste erwarb sich Lurija in der Weiterentwicklung der Theorie der »funktionellen Systeme«: Im Gegensatz zur älteren »Lokalisationslehre« konnte nachgewiesen werden, daß komplexe psychische Leistungen nicht einen bestimmten »Sitz« im Gehirn haben; vielmehr ist das Organ plastisch und kann bei der Beschädigung von Gewebe in bestimmten Grenzen umorganisiert werden, um so Leistungen auf anderem Wege zu erbringen. Dies wiederum eröffnete der Rehabilitation neue Möglichkeiten.

Bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs reicht auch ein neues wissenschaftlich-literarisches Genre zurück, mit dem Lurija zu Beginn der 1970er Jahre berühmt werden sollte, der »neurologische Roman«. Die Bezeichnung ist etwas irreführend, weil es sich nicht um Fiktionen handelt, sondern um zwei längere Fallgeschichten, deren Material der Autor über drei Jahrzehnte sammelte. Ein Patient, ein gewisser Sassezki, war als Rotarmist im Krieg bei Smolensk durch einen Granatsplitter am Kopf verletzt wurden. In der Folge verlor er die Fähigkeit zu lesen, er hatte Schwierigkeiten, einfache Wörter zu erinnern und Gegenstände zu erkennen. Beeinträchtigt waren außerdem sein Sehfeld und seine Körperwahrnehmung, alles Leistungen, die bei Gesundheit als völlig selbstverständlich eingeschätzt werden. Lurija macht in seiner Studie darauf aufmerksam, daß auch scheinbar einfaches Erkennen und Wahrnehmen komplizierte Entscheidungen und die Fähigkeit voraussetzt, Einzelinformationen in komplexe Systeme einzuordnen. Genau dies gelang dem »Mann, dessen Welt in Scherben ging«, nicht mehr. »Der Granatsplitter, der ins Gehirn dieses Patienten eingedrungen ist, hat genau die Teile der Hirnrinde unterbrochen, die die Analyse, die Synthese und die Organisation komplexer Assoziationen in einem Beziehungsgeflecht steuern, indem sie die wesentlichen Merkmale wahrgenommener Dinge isolieren und Spuren von Sprachgewohnheiten speichern.«

Obwohl Sassezki große Schwierigkeiten mit dem Lesen hatte, füllte er mehrere tausend Seiten mit Tagebuchnotizen, um in mühsamer Kleinarbeit seine Erinnerungen wiederzuerlangen. Die Tagebücher bilden die Grundlage der Fallgeschichte, ergänzt durch Exkurse von Lurija zu den neurologischen Grundlagen der jeweiligen Erfahrung. Die Kombination von Patienten- und Arztperspektive war Lurija dabei besonders wichtig. Vernachlässige man die Sicht des Betroffenen, betreibe man lediglich »Veterinärmedizin«. Er plädierte für eine Einheit »klassischer« und »romantischer« Wissenschaft, die er wie folgt umschrieb: »Der klassische Wissenschaftler zerlegt Ereignisse in ihre Bestandteile. Schritt für Schritt nimmt er sich wesentliche (…) Elemente vor, bis er schließlich allgemeine Gesetze formulieren kann.« Allerdings führe diese Methode dazu, daß »die lebendige Wirklichkeit in ihrer reichen Vielfalt auf abstrakte Schemata reduziert wird«. Der »romantische Wissenschaftler« gehe den entgegengesetzten Weg. »Ihre wichtigste Aufgabe sehen sie darin, den Reichtum der Lebenswelt zu bewahren, und sie erstreben eine Wissenschaft, die sich dieses Reichtums annimmt.«

Seine Hinwendung zur Neuropsychologie hatte zur Folge, daß Lurija sich weitgehend von gesellschaftswissenschaftlichen Diskussionen zurückzog. Dies hatte sicher mehrere Gründe. Lurija konnte den Ansatz seines Lehrers Wygotski auf diese Weise ausbauen, außerdem waren seine Fähigkeiten im Krieg sehr gefragt. Andererseits vermied er es, in weltanschaulich-politische Streitigkeiten verwickelt zu werden, in denen zu unterliegen während der 1930er Jahre gefährlich sein konnte. Noch 1950 enthob man Lurija seines Postens am Moskauer Institut für Neurochirurgie und wiederholte dabei unter anderem die alten Vorwürfe des »Anti-Pawlowismus«. Als Mitglied der pädagogischen Akademie der Wissenschaft genoß er allerdings eine gewisse Position und bekam bald wieder eine neue Stelle vermittelt.

Im Westen wurde Lurija vor allem durch seinen US-amerikanischen Schüler Oliver Sacks bekannt, der später populäre Aufsätze im Stile des »neurologischen Romans« veröffentlichte. Der von Wygotski initiierte Ansatz ist inzwischen unter dem Namen der »kulturhistorischen« oder »Tätigkeitstheorie« bekannt und wird international rezipiert. Lurijas späte Arbeiten inspirieren heute die sogenannte »Neuro-Psychoanalyse«, also den Versuch, die von Freud postulierten Modelle der »Verdrängung« oder des »Über-Ich« auf neurologischer Ebene nachzuweisen. Daß beide, Wygotski und Lurija, in ihrer Wissenschaft und politischen Haltung Marxisten waren und blieben, wird dabei gern ignoriert.

Lurija starb heute vor 35 Jahren, am 14. August 1977, in Moskau.

Michael Zander ist Psychologe und lebt in Berlin.

Leave a Reply