Nachruf – Wurzel des Hasses

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Arno Gruen vernahm Nazis und bekam Einblick in die Seele von Kriegsverbrechern. Er entdeckte die Ursachen von Hass und Gewalt in autoritären Erziehungsmustern. Im Alter von 92 Jahren ist der große Psychoanalytiker gestorben.

Wenige Wochen nach dem 11. September 2001 erhielt Arno Gruen für sein im Jahr zuvor erschienenes Buch "Der Fremde in uns" den Geschwister-Scholl-Preis. Dringender denn je stand in diesem Moment die Frage im Raum, "warum Menschen so schnell die offenbar dünne Schicht durchbrechen, die unsere Zivilisation und Kultur von Barbarei, Grausamkeit und Brutalität trennt", wie es der Laudator Burkhard Hirsch formulierte. Was treibt Menschen dazu, anderen Menschen das Mitgefühl zu entziehen und sie mit Hass und Gewalt zu überziehen?, diese Frage hat den 1923 in Berlin geborenen Autor zeitlebens umgetrieben. Eine Schlüsselerfahrung hatte er auf der Schulbank gemacht: Als eine Lehrerin die Klasse fragte, wer unter ihren Zöglingen bereit sei loszugehen und ihr einen Rohrstock zu besorgen, damit sie sie alle besser züchtigen könne, schnellten 29 von 30 Zeigefingern in die Höhe.

An der Seite seiner jüdischen Eltern emigrierte Arno Gruen 1936 über Polen und Dänemark in die USA. Als amerikanischer Soldat kehrte er vorübergehend nach Deutschland zurück und war dort mit der Vernehmung von Nazi-Kriegsverbrechern betraut, was ihm tiefe Einblicke in die Psychologie der Gewalt und in die Biografien der Täter vermittelte. Zurück in New York, studierte er Psychologie und Philosophie, leitete zeitweise eine Kinderklinik im gewaltträchtigen Bezirk Harlem, eröffnete 1958 eine psychoanalytische Praxis und promovierte 1961 bei Sigmund Freuds vormals engstem Wiener Mitarbeiter Theodor Reik. Nach Europa kehrte Gruen 1979 zurück, wirkte als Psychoanalytiker in seiner neuen Wahlheimat Zürich und verfasste seither unzählige Schriften und Bücher über sein Lebensthema Empathie: Warum macht sie den Mensch erst zum Menschen? Welche Gründe führen zu ihrem Verlust? Und mit welchen Folgen?

Bekannt wurde Gruen mit Büchern wie "Der Verrat am Selbst. Die Angst vor der Autonomie" (1984) und seiner Theorie der menschlichen Destruktivität "Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit" (1987). Die Gründe für Hass und Ausbrüche von Gewalt erkannte Gruen in Fehlentwicklungen der Kindheit durch mangelnde Elternliebe, autoritäre Erziehungsmuster und den Verlust von Gefühlen, die als Schwäche ausgelegt und Heranwachsenden ausgetrieben wurden.

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Wie Gewalt in Fremdenfeindlichkeit, in Rechtsextremismus und Terrorismus wieder zu politischen Faktoren wird, damit befasste sich Gruen in den letzten 15 Jahren: Im Jahr nach 9/11 erschien "Der Kampf um die Demokratie: Der Extremismus, die Gewalt und der Terror". Erst in diesem Jahr ließ Arno Gruen eine überarbeitete und erneuerte Fassung dieses emblematischen Buchs von 2002 folgen - jetzt unter dem Titel: "Wider den Terrorismus".

Gemeint ist darin auch der Terror, den die Menschen selbst in ihrem Inneren austragen. Arno Gruen, den man jetzt erst recht wieder zu brennenden Problemen befragen müsste, ist am vergangenen Mittwoch in Zürich gestorben.

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