Mörder: Die Psychologie eines Flüchtigen

Zwölf Tage war er sozusagen auf der Flucht – auch, wenn er sein Leben und seinen Alltag kaum veränderte. Bei seiner Verhaftung am 26. September 2013 hätte er beinahe erleichtert gewirkt, sagte damals einer der ermittelnden Kriminalbeamten. Noch am selben Tag legte der vergangene Woche nicht rechtskräftig wegen Mordes zu 20 Jahren Freiheitsstrafe verurteilte 24-Jährige ein Geständnis ab.

Er soll die 21-jährige Larissa, die er wenige Wochen zuvor kennengelernt hat, in der Nacht auf den 14. September in seiner Wohnung in Rum bei Innsbruck aus Eifersucht bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt und anschließend erstickt haben. Danach habe er die Leiche in den Inn geworfen, nach einer groß angelegten Suchaktion wurde sie am 6. Oktober gefunden.

Die Meldung von seiner Verhaftung löste insbesondere bei Larissas Familie Fassungslosigkeit aus. Schließlich hatte er sich zuvor bei der Suche nach ihr beteiligt, ihre Schwestern zum Essen eingeladen und den ahnungslosen, verzweifelten Freund gespielt. Bis er aufgrund eines verheimlichten Telefonats mit einem Pannendienst (als er Larissas Leiche in den Inn warf, blieb er mit seinem Auto auf einer Sandbank stecken) überführt wurde, schöpfte niemand Verdacht. Wie konnte er so lang alle in seinem Umfeld täuschen? Hätte er sich durch sein Verhalten nicht irgendwie verraten müssen? Was ging in ihm während dieser zwölf Tage vor?

Kein typisches Profil. Fragen, die Kriminalpsychologe Thomas Müller zufolge nur sehr schwer zu beantworten sind. „So wie es nicht den typischen Einbrecher oder das typische Profil eines Serienmörders gibt, ist auch das Fluchtverhalten von jedem destruktiv handelnden Menschen unterschiedlich“, sagt der international anerkannte Profiler, dessen Bücher „Bestie Mensch“ (Ecowin, 2004) und „Gierige Bestie“ (Ecowin, 2006) zu Bestsellern geworden sind. „Wir neigen dazu, das Unbekannte zu vereinfachen, um klare und stringente Antworten zu erhalten. Aber menschliches Verhalten ist zu vielfältig, als dass wir es in zehn, 50 oder 100 Kategorien einordnen könnten.“ Um die Komplexität der Psychologie eines Mörders auf der Flucht zu verdeutlichen, bemüht er gern das Beispiel eines 60-jährigen Mannes, den er einst in einem Hochsicherheitsgefängnis in Deutschland interviewt hat.
Dieser erzählte ihm, dass er an einem Wochenende zwei Frauen umgebracht habe und danach fast acht Jahre inaktiv gewesen sei. Nach seiner Verhaftung wurden ihm sieben Morde nachgewiesen. Aber nur, weil er Morde gestand, die die Behörden gar nicht als solche angesehen hatten. Er hatte sie wie natürliche Todesfälle aussehen lassen.

„Seine Vorgehensweise war aus kriminalpsychologischer Sicht hoch interessant. Vor allem, warum er oft über Jahre hinweg inaktiv war“, betont Müller. „Er begründete das damit, dass er unmittelbar nach der Tat zunächst Angst hatte, erwischt zu werden. Im Laufe der nächsten Monate wurde diese Angst aber immer weniger, bis sie irgendwann fast komplett verschwand.“

Aber nach rund zwei Jahren habe sich bei ihm aus unerklärlichen Gründen wieder eine gewisse Unsicherheit eingestellt, die in den folgenden Jahren zu einer geradezu panischen Angst geführt habe, doch noch gefasst zu werden. „Er meinte: ,Hätte nach acht Jahren jemand einfach an meine Tür geklopft und gesagt, wir müssen reden – ich hätte sofort gestanden‘“, erzählt Müller. „Dass die Angst erst nach Jahren ihren Höhepunkt erreicht, war neu für mich. Gilt diese Entwicklung nun für alle Täter? Natürlich nicht.“

Die Herausforderung in der Kriminalpsychologie liege genau darin, das Tatverhalten mit dem post-crime behaviour in Verbindung zu setzen, um über den Tatort Schlüsse ziehen zu können. „Denn gerade die Art, wie Täter ihre Opfer nach einem Mord zurücklassen, lässt viele Rückschlüsse auf ihr Fluchtverhalten zu.“ Welche Rückschlüsse genau, will Müller nicht verraten, um Tätern keine „Ratschäge“ zu geben, wie sie ihre Verbrechen bzw. ihr anschließendes Verhalten besser tarnen können. „Nur so viel: Die Planung und Durchführung eines Delikts korreliert in hohem Maß mit dem Fluchtverhalten.“

So gebe es Täter, die sich unmittelbar nach der Tat zurückziehen, verstecken und ihre tägliche Routine meiden, um nicht aufzufallen – wobei sie dadurch genau das Gegenteil erreichen würden. Wie etwa Alkoholiker, die fast zwanghaft Mentholpastillen nehmen, um den Alkoholgeruch zu überdecken und dadurch ihre Sucht umso deutlicher offenbaren. Andere wiederum würden die Medien verfolgen und sogar aktiv versuchen, Informationen über die Ermittlungen zu erhalten.

Jack Unterweger beispielsweise, der in den Neunzigerjahren in drei Ländern auf zwei Kontinenten elf Prostituierte getötet haben soll, stellte als Journalist Fragen an den Wiener Polizeichef und lenkte dadurch den Verdacht auf sich. Müller: „Die Frage lautet ja immer: Können wir als Kriminalpsychologen im Vorfeld der Fahndung, also unmittelbar nach Bekanntwerden einer Tat, dieses Verhalten antizipieren und den Ermittlungsbehörden zur Verfügung stellen? Die Antwort lautet unter bestimmen Voraussetzungen: Ja.“

Sadistische Persönlichkeiten. Eher selten zu beobachten seien Täter, die den Kontakt zur Familie des Opfers suchen. In der Regel handle es sich dabei um sadistisch agierende Persönlichkeiten, die sich nach der Tat noch zusätzlich am Leid der Betroffenen ergötzen.

Ähnlich selten wie Täter, die in das Ausland fliehen, um ein neues Leben zu beginnen. Auch, weil es heutzutage aufgrund bilateraler Abkommen und der technischen Kommunikations- und Ermittlungsmöglichkeiten fast nicht mehr möglich sei, in einem anderen Land unterzutauchen. „Manchmal“, so Müller, „verlassen Tatverdächtige aber auch das Land, weil sie die mediale Hinrichtung nicht mehr ertragen – gerade, weil sie unschuldig sind. Daher lässt die Flucht allein im Regelfall keinen Rückschluss auf Schuld oder Unschuld einer Person zu.“

 

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2014)

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