Mit Mathematik gegen Depression – Tages

Gründe, um Antidepressiva abzusetzen, gibt es viele. «Ich will nicht ständig mit diesen Medikamenten leben», sagt der 44-jährige Blerton*, der bereits zweimal in seinem Leben von einer Depression erfasst wurde. Der zweite Schub liegt über ein Jahr zurück, den Familienvater plagten schlaflose Nächte und Panik­attacken. «Es war der Horror», sagt er. Mit einer Therapie und Medikamenten bekam Blerton seine Depression in den Griff. Er spricht offen über seine Situation, auch über die Nebenwirkungen der Antidepressiva. Neben Übelkeit, Müdigkeit und Schlaflosigkeit litt er unter Erektionsstörungen.

Schrittweise reduziert Blerton derzeit die Menge der Antidepressiva-Tropfen, die er seit einem Jahr einnimmt. Obwohl sein Zustand stabil ist, hat er Bedenken. Denn das Rückfallrisiko bei Depressionskranken ist hoch und erhöht sich mit jeder weiteren Episode: Patienten wie Blerton, die bereits zweimal von einem Schub erfasst wurden, haben eine Rückfallquote von 70 Prozent. Deshalb werden Antidepressiva oft sehr lange verschrieben. Da keine Tests oder Messungen existieren, die zuverlässig voraussagen können, wer einen Rückfall ­erleiden wird, werden Antidepressiva auch denjenigen Patienten lange empfohlen, die eigentlich nicht mehr davon profitieren – oder die Medikamente ­werden trotz hohem Risiko abgesetzt.

Blerton möchte die Antidepressiva innerhalb der nächsten sechs Monate absetzen. Dabei wird er enger begleitet als andere Patienten in derselben Situation. Er spricht regelmässig mit Psychiatern, füllt Fragebögen aus, gibt Blut­proben ab und legt sich in die Röhre ­eines Kernspintomografen (MRT), um seine Hirnaktivität messen zu lassen. Der Grund für diese umfassenden Untersuchungen: Blerton nimmt an einer Studie teil, die den richtigen Zeitpunkt zum Absetzen von Antidepressiva heraus­finden will.

Gezieltere Therapien

Die Absetzstudie, die von der Translational Neuromodeling Unit (TNU) der Universität Zürich und ETH Zürich in Kooperation mit der Psychiatrischen Universitätsklinik durchgeführt wird, kombiniert Verhaltens­untersuchungen, Hirnaktivitätsmessungen und das sogenannte Neuromodeling. Letzteres ist ein neuer Ansatz, der versucht, mit mathematischen Modellen die Mechanismen zu erklären, mit denen das Gehirn Informationen verarbeitet.

Das mathematische Verfahren ist für Laien nicht ganz einfach nachzuvollziehen. Vereinfacht gesagt, nutzen die Neuromodeling-Forscher mathematische Modelle, um die neuronalen Schaltkreise zu verstehen, die beobachtetem Verhalten und mittels MRT und anderen bildgebenden Verfahren gemessener Hirnaktivität zugrunde liegen.

Noch steckt die Neuromodeling-Forschung ganz am Anfang. Doch sie hat ambitionierte Ziele: Ihre Resultate sollen Psychiatern zukünftig helfen, präzisere Diagnosen zu stellen und gezieltere Therapieempfehlungen zu geben. Bisher werden psychische Krankheiten wie Schizophrenie, Sucht oder Depression anhand von Symptomen, nicht Ursachen, diagnostiziert und behandelt. Wer auf welches Medikament anspricht, lässt sich anhand der Symptome allein aber heute noch kaum voraussagen. Daher kann es Monate dauern, bis das passende Medikament für einen Patienten gefunden ist.

Dass Vertreter der noch jungen Disziplin in Zürich forschen, hat mit der Translational Neuromodeling Unit (TNU) zu tun, einer gemeinsamen Einheit der Universität Zürich und der ETH Zürich. Bei ihrer Gründung 2012 war die TNU die weltweit erste klinisch orientierte Einheit für Neuromodeling. Solche Fach­bereiche entstehen derzeit an vielen grösseren Zentren, zum Beispiel in London und Stanford. Die TNU ist in einem ehemaligen Wohnhaus am Zürichberg untergebracht. In den hellen Räumen arbeitet eine interdisziplinäre Forschungsgruppe aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Mathematik, Physik, Informatik und Biologie. Die Hälfte der 37 Mitarbeitenden sind Frauen.

Geleitet wird die TNU von Klaas Enno Stephan. Über seine Forschungsrichtung sagt der Deutsche: «Für viele Mediziner sieht unsere Arbeit aus wie Science-Fiction.» Der Neuroinformatiker ist sehr erfolgreich, er gilt als einer der Wegbereiter des Neuromodeling. Sein Lebenslauf ist so beeindruckend wie sein britisches Englisch, das er sich bei Studienaufenthalten angeeignet hat. So hat der 42-Jährige über 150 Artikel in Journalen mit Gutachtersystem veröffentlicht und trommelte über sieben Millionen Franken Drittmittel für Forschungsprojekte und Laborinfrastruktur zusammen.

Stephan hätte Angebote von bedeutenden internationalen Forschungsinstituten gehabt, doch er entschied sich, in Zürich zu forschen. «Die Kooperation zwischen UZH und ETHZ ist sagenhaft, darauf kann Zürich nicht stolz genug sein», sagt Stephan.

Chance für die Psychiatrie

Die Antidepressiva-Absetzstudie nutzt einen institutseigenen Scanner im Unispital. Während der mehrmonatigen Studie untersuchen Forschungsleiter Quentin Huys und sein Team die Studienteilnehmer aber mehrheitlich in den Räumen des TNU. In seiner Forschung hat sich der 35-jährige Liechtensteiner Huys auf das Modellieren von Depressionen und Sucht spezialisiert. «Die mathematische Erfassung von Emotionen machte grundlegende Fortschritte», sagt Huys. Dies erlaube zum Beispiel, den Einfluss von Emotionen auf Gedanken im Gehirn zu messen. Er hofft, mit seiner Studie Zeichen zu finden, die voraussagen, wer nach dem Absetzen von Antidepressiva einen Rückfall erleben wird. Dieses Wissen könnte für die Behandlung von Depressionen hilfreich sein, sagt Huys.

Die Neuromodeling-Forscher der TNU möchten die traditionelle Psychiatrie nicht konkurrenzieren, sondern diese mit präziseren Diagnosewerkzeugen ergänzen. Michael Rufer, stellvertretender Klinikdirektor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsspital Zürich, verfolgt die Forschung mit Interesse. «Wenn wir besser voraussagen könnten, wer von welchem Medikament profitiert und bei wem es wieder abgesetzt werden kann, wäre das ein grosser Gewinn.» Ihn überzeugt die breite Ausrichtung des Neuromodeling, das nicht nur Hirnaktivitätsmessungen, sondern auch Verhaltensuntersuchungen einschliesst.

Die Erwartungen an die Neuromodeling-Forschung sind hoch, doch Klaas Enno Stephan bleibt zurückhaltend. «Wir müssen erst etwas zum Vorzeigen haben, bevor wir konkrete Einsatzmöglichkeiten versprechen können.» Studienteilnehmer Blerton ist jedenfalls begeistert von der Arbeit der TNU. «Ich wurde bisher von den Verantwortlichen gut begleitet und bei Krisen sehr gut aufgefangen», sagt er.

* Name geändert.

www.translationalneuromodeling.org (Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 20.12.2015, 22:41 Uhr)

Leave a Reply