Mit LSD gegen den Vergewaltiger

Auf einer Lichtung nimmt sie Fabel­wesen wahr, die um ein Feuer sitzen. Sie gesellt sich zu ihnen, fühlt sich wohl dabei. Dann merkt sie, dass eine Gestalt im Schatten eines Baums sie beobachtet. Sie weiss, wer das ist: ihr Vater. Angst ergreift sie, dann Panik, sie fühlt sich hilflos und winzig, bekommt kalt, ihr wird schlecht. Ziellos läuft sie herum, die Angst scheint sie zu überwältigen. Erschöpft hält sie inne, schweissnass, legt sich hin. Der Atem geht ruhiger, der Puls langsamer, Ruhe breitet sich in ihrem Körper aus. Auch die Fabelwesen sind wieder da. Sie gehören zu ihr.

Die Patientin, die unter LSD diese Angst erlebte und dann ihre Überwindung, wurde als Kind von ihrem Vater während sechs Jahren mehrmals pro Woche sexuell missbraucht. Tagsüber ging er liebevoll mit ihr um, nachts wurde er zum Monster, das mit fratzenhaftem ­Gesicht über sie herfiel. Das Mädchen konnte das Entsetzliche nur aushalten, indem es sich eine Traumwelt schuf. Dorthin konnte es flüchten, fühlte sich sicher, wenn auch einsam. Auf dem LSD-Trip brachen die Schrecken der Kindheit in diese Traumwelt ein. Aber zum ersten Mal konnte die Frau sie zulassen, ohne überwältigt zu werden.

Posttraumatisches Stresssyndrom

«Dissoziation» nennt die Psychiatrie das Abtrennen schrecklicher Erlebnisse, ein häufiges Symptom bei Patienten mit posttraumatischem Stresssyndrom, also nach Vergewaltigung, Folter, schweren Unfällen, bei Kriegstraumen oder eben sexuellem Kindesmissbrauch. Die Patientin geht seit Jahren zum Solothurner Psychiater Peter Gasser in Therapie. Obwohl sie auf dem Weg zur Genesung Fortschritte macht, fällt sie immer wieder in ihre einsame Traumwelt zurück.

Gasser hat eine vielbeachtete, vom Bundesamt für Gesundheit anerkannte Pilotstudie über den therapeutischen Einsatz von LSD durchgeführt. Das BAG erteilte ihm danach die Bewilligung, seiner Patientin zweimal die Substanz zu verabreichen, sie durch das Erlebnis zu geleiten und es mit ihr durchzuarbeiten. Das LSD habe der Frau geholfen, sagt Gasser, «ihr Erleben als Einheit und als Teil von sich selbst zu integrieren». Sie werde die «unschätzbar wertvolle» Erfahrung bewahren, «wie es ist, wenn man bei sich zu Hause ist». Die Hölle aber, die sie erlebt habe, könne auch das LSD nicht wegmachen.

Forschung war lange unmöglich

Gasser trug diese Krankengeschichte am Donnerstag in Münchenstein BL vor, an einem internationalen Symposium der Schweizerischen Gesellschaft für psycholytische Therapie (www.saept.ch). Experten präsentierten an dem Symposium neue Experimentalstudien über die drogengestützte Therapie. Dass immer mehr solcher Studien geplant, eingereicht, bewilligt und durchgeführt werden, resultiert aus einer späten Erkenntnis: dass nämlich das radikale Drogenverbot Anfang der 70er-Jahre eine Forschung verunmöglicht hat, die Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen helfen könnte.

Die Studien kosten viel Zeit und Geld, weil sie den hohen Anforderungen an Methodik, Sicherheit und Ethik genügen müssen. Die Probandenzahl ist daher oft klein; grössere Studien wären zwar wünschenswert, aber oft zu teuer. ­Trotzdem: Die Resultate ermutigen die Fachleute. Denn sie bestätigen die Hoffnung, dass eine Psychotherapie mit dem gezielten Einsatz psychoaktiver Substanzen wie LSD oder MDMA (Ecs­tasy) bei Patienten, die schon jahrelang in wirkungsloser Behandlung sind, das psychische Leid lindern, Ängste reduzieren und die Zuversicht stärken kann.

Das Gefühl von Glück, Offenheit und Vertrauen überwog, Angstgefühle traten selten auf und blieben schwach.

Trotz den hoffnungsvollen Resultaten müssen sich die Forscher noch immer dafür rechtfertigen, die Substanzen therapeutisch einzusetzen. Auch das ist eine Spätfolge des internationalen Drogenverbots, das auf Druck der USA vom Suchtkontrollrat der UNO übernommen wurde. Bis heute werden LSD und MDMA als «nicht verkehrsfähige Betäubungsmittel» taxiert, das heisst so gefährlich wie Heroin und Kokain eingeschätzt, obwohl sich diese Gleichsetzung weder toxikologisch noch klinisch rechtfertigen lässt.

Solche Vorurteile erklären, warum die Erkenntnisse des Zürcher Psychopharmakologen Matthias Liechti so wichtig sind, obwohl sie niemanden überraschen, der sich auskennt. Liechti hat am Basler Universitätsspital untersucht, was eine mittlere Dosis von 200 Mikrogramm LSD in seinen 16 Probandinnen und Probanden genau anrichtet. Die positiven Reaktionen überwogen die negativen bei weitem, wie eine Analyse der Frage­bogen ergab. Das Gefühl von Glück, Offenheit und Vertrauen überwog, Angstgefühle traten selten auf und blieben schwach. Blutdruck, Herzfrequenz und Temperatur waren leicht erhöht und die Pupillen geweitet, die hormonelle Veränderung ähnlich wie nach der Einnahme von MDMA.

Kleine Dosis, grosse Wirkung

«Beide Substanzen verändern die Hirnfunktionen auf eine komplexe und für psychotherapeutische Zwecke vorteilhafte Weise», sagt der Mediziner Torsten Passie, derzeit Gastprofessor an der Harvard University. Der psychotherapeutische Prozess werde intensiviert und vertieft, Ängste würden abgebaut, heilende psychische Kräfte aktiviert.

Dies war denn auch der Tenor des Symposiums in Münchenstein: Werden Substanzen wie LSD oder MDMA in ­einer vertrauensvollen, kontrollierten Umgebung abgegeben, spricht nichts ­gegen ihre gezielte Verwendung in der Psychotherapie und sehr vieles dafür: eine starke Linderung des Leidens.

Was aber heisst «gezielt»? Wie oft muss ein Patient während der Psychotherapie Ecstasy oder LSD nehmen, damit seine Besserung anhält? Die Frage der Langzeitwirkung stellt sich umso drängender, als viele Traumapatienten bei herkömmlicher Behandlung über Jahre hinweg starke Medikamente nehmen müssen, die entsprechende Nebenwirkungen produzieren.

Der US-amerikanische Psychiater ­Michael Mithoefer hat die Wirkungsdauer von Ecstasy auf Traumapatienten untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass der Effekt nach drei MDMA-Sitzungen am grössten war. Zwischen den ­Sitzungen arbeiteten die Patienten ihre Erlebnisse in der Therapiestunde auf. Bei der Kontrollgruppe, die nur psychotherapeutisch behandelt wurde und statt des Wirkstoffs ein Placebo bekam, verbesserte sich der Zustand um 25 Prozent, bei der MDMA-Gruppe um 83 Prozent.

Das erstaunlichste Resultat lieferte eine Nachuntersuchung der Patienten nach 45 Monaten, also nach fast vier ­Jahren. Bei mindestens 74 Prozent von ihnen zeigte sich ein anhaltender positiver Effekt. Kein herkömmliches Medikament hat bei so geringer Dosierung eine derart grosse Wirkung.

Matthias K. Diesch: LSD: Rückkehr in die klinische Forschung. Nachtschatten-Verlag, 2015, 35 Fr. (Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 14.09.2015, 18:51 Uhr)

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