Mit Angst zum Erfolg

Sie haben morgen eine wichtige Präsentation, aber ihr Puls rast und in Ihrem Kopf schwirren Tausende Sorgen: Was ist, wenn ich nicht richtig vorbereitet bin? Was ist, wenn es schief geht? Die Zeit läuft Ihnen davon und das letzte, was Sie brauchen können, sind all diese Ängste.

Tatsächlich könnte ein bisschen Angst aber genau das sein, was Sie benötigen, um Ihre Anstrengungen zu bündeln und die beste Leistung zu bringen, sagen Psychologen.

Irgendwo zwischen völlig gelassen und ausgeflippt liegt der richtige Punkt, sagen die Forscher. In dieser Verfassung ist der Mensch motiviert genug, um erfolgreich zu sein, aber nicht so ängstlich, dass die Leistung kippt. Diese moderate Unruhe hält die Menschen auf Trab, befähigt sie zu vielfältigen Aufgaben und hält sie wachsam für mögliche Probleme.

Trainer und Sportpsychologen haben schon immer gewusst, dass ihre Schützlinge kurz vor einem wichtigen Ereignis nicht entspannt sein sollten. „Man braucht ein bisschen ‚Saft", um schnell zu sein", sagt Stephen Josephson, Psychologe in New York City, der viele Sportler, Schauspieler und Musiker betreut hat.

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Anxiety gets a bad rap, but a recent brain-scan study found that just the right amount of worrying has some serious upsides. Melinda Beck has details on Lunch Break.

Das hinzukriegen ist aber gar nicht so leicht. Besonders optimistische Menschen und solche mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) fehlt es oftmals an genug Angst, um aktiv zu werden. Andere – vor allem zögerliche Perfektionisten – müssen sich angsterzeugende Situationen erst schaffen, um etwas zu leisten.

Angst zu steuern ist ebenfalls nicht leicht, weil die tief im menschlichen Stammhirn verankerte Gefahrerkennung nicht Schritt gehalten hat mit Fähigkeit des modernen Menschen, sich um die Zukunft zu sorgen, über Vergangenes zu grübeln und sich alle möglichen schrecklichen Szenarien vorzustellen, sagt Dennis Tirch vom Institut für Kognitive Therapie in New York. Der primitive Kampf-oder-Flucht-Reflex kommt daher auch dann auf, wenn es sich nur um unangenehme gesellschaftliche Verpflichtungen oder einen 20-seitigen Bericht handelt.

18 Prozent der erwachsenen Amerikaner haben Angststörungen

Natürlich kann zu viel Angst auch schmerzhaft und destruktiv wirken. Jedes Jahr haben etwa 40 Millionen erwachsene Amerikaner – das sind rund 18 Prozent der Bevölkerung – mit Angststörungen zu kämpfen, sagt das Nationale Psychologie-Institut NIMH. Nur ein Drittel davon sucht professionelle Hilfe. Die Störungen reichen von Panikattacken und speziellen Phobien bis zu Zwangsstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und allgemeinen Angststörungen. Wer darunter leidet, neigt laut NIMH meist auch zu Depressionen und physischen Erkrankungen wie Migräne, Bluthochdruck, Herzleiden, Verdauungsstörungen und chronischen Schmerzen.

Die Begriffe Angst und Stress werden dabei oft in einen Topf geworfen. Zu Stress gehören jedoch auch Ärger und Frustration, während Angst typischerweise mit Sorgen und Unsicherheit einhergeht.

Die Vorstellung, dass moderate Ängste vorteilhaft sein können, reicht bis in das Jahr 1908 zurück, als die Harvard-Psychologen Robert Yerkes und John Dodson behaupteten, dass Erregung (so nannten sie es) die Leistung steigert – aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Wenn die Angst zu groß wird, geht die Leistung stattdessen zurück.

Die Yerkes-Dodson-Kurve – ein auf den Kopf gestelltes U – wird noch immer in Psychologie-Seminaren gelehrt. Und die moderne Neurowissenschaften hat dabei geholfen, sie zu bestätigen. Studien haben zum Beispiel gezeigt, dass das Gehirn am besten lernt, wenn der Stresshormonwert leicht erhöht ist.

Angst macht einfache Aufgaben schwierig

Große Angst kann jedoch dazu führen, dass selbst einfache Aufgaben schwierig werden, sagt Jason Moser, Psychologe an der Michigan State University. In einer in diesem Monat im International Journal of Psychophysiology veröffentlichten Studie haben er und seine Kollegen die Hirnaktivität von 79 Studentinnen und 70 Studenten untersucht, während sie in einer Übung Buchstaben erkennen mussten.

Die Studenten waren anfangs alle gleich gut. Aber die Frauen, die sich als besonders ängstlich einstuften, mussten härter arbeiten. Bei Ihnen zeigte sich in dem Gehirnteil, den man für das Angstzentrum hält – im vorderen zingulären Kortex – eine deutlich erhöhte Aktivität. Und als die besonders ängstlichen Frauen begannen, Fehler zu machen, geschah dies öfter als bei den anderen. Das legt nahe, dass die Extra-Anstrengung, die die Angst ausgelöst hat, ihren Tribut forderte, sagt Moser.

Aber wie findet man den richtigen Punkt zwischen Angst die antreibt und Angst die lähmt?

Probleme eher mit zu viel als zu wenig Angst

Die meisten Therapeuten haben mehr Patienten, die unter zu viel Angst leiden, als unter zu wenig. Dabei können Rückzug und fehlender Antrieb ein Kennzeichen von Depression sein. Josephson sagt, dass übermäßig optimistische Menschen mit ADHS oft keinen ausgeprägten Sinn dafür hätten, wie dringlich Dinge gemacht werden müssen. Eine mögliche Form der Behandlung seien „motivierende Gespräche". Dabei werden auf der einen Seite die negativen Konsequenzen betont, die ein Nicht-zu-Ende-bringen für die Zukunft hat. Auf der anderen Seite wird erklärt, wie ruhig und erleichtert man sich fühlen würde, wenn die Aufgabe erledigt ist, sagt Josephson.

Andere Menschen bringen dagegen ohne ein gewisses Niveau an Aufregung nichts zustande. „Es gibt Menschen, die unbewusst ihr Leben unter extra Spannung halten, indem sie zum Beispiel immer zu spät zu Verabredungen kommen, Fristen nur knapp einhalten oder mehr Geld ausgeben als sie sich leisten können", sagt Marianne Legato, Professorin für klinische Medizin an der Columbia University in New York. „Ich nenne sie die Ärgerer."

Aufputschmittel wie Koffein und Zigaretten erzeugen das physische Gefühl von Angst künstlich, indem sie die Blutgefäße verengen und den Herzschlag erhöhen.

Zur Erkrankung wird der dauernd erhöhte Erregungszustand, wenn die Person ihn nicht mehr abschalten kann, oder wenn er die Funktionsfähigkeit beeinträchtigt. „Frage dich selbst: Schränkt es mein Leben deutlich ein? Und sorgt es für größeres Leiden?", sagt Tirch.

Ruhe nur mit Alkohol - ein Alarmsignal

Angst wird auch dann zum Problem, wenn sie im Körper physische Spannungen erzeugt oder wenn sie von einer dauernden Selbstkritik ausgelöst wird, was sich dann oft selbst bewahrheitet. Alarmzeichen sind auch, wenn man nicht mehr ohne Medikamente oder Alkohol schlafen oder sich entspannen kann.

„Wenn man ein Glas Wein braucht, um sich zu entspannen, ist das beunruhigend", sagt Legato. „Wenn man am Ende des Tages Trost braucht, quält man sich auf irgendeine Weise."

Angst wirkt besonders zerstörerisch, wenn man sich stärker auf die eigene Angst fixiert als auf die zu lösende Aufgabe. Der beste Weg, sich selbst im richtigen Zustand zu halten, ist laut Jason Moser, seine Angst in produktive Aktivität zu lenken – zum Beispiel etwas zu lernen und dann mit Bravour zu bestehen. „Ich sage meinen Patienten oft, dass Nike eine wirklich guten Slogan hat – Just Do It", sagt er.

Der Angst stellen, um sie zu überwinden

Angst in Aktion umzusetzen ist auch ein wichtiger Bestandteil der kognitiven Verhaltenstherapie, die allgemein als die effektivste Methode bei Angststörungen gilt. Zerstörerische Gedanken zu erkennen und anzugehen sowie sich allmählich an die Quellen der eigenen Ängste heranzuarbeiten kann länger anhaltende Erleichterung verschaffen als dafür entwickelte Medikamente, sagen Psychologen.

"Wenn du Xanax brauchst, um in einen Fahrstuhl einsteigen zu können, wirst du nie lernen, dass der Fahrstuhl nichts ist, vor dem man sich fürchten müsste", sagt Josephson. „Du musst dich der Angst stellen, um sie zu überwinden."

Auf diese Weise helfen Psychologen auch oft Künstlern und Darstellern bei Lampenfieber oder Sportlern aus einer Krise. Entspannungstechniken wie Meditation und Tiefenatmung kann gefährliche Ängste abmildern, aber die Ängste nutzbar machen ist letztlich der effektivere Weg. Sich ein Szenario immer wieder vorzustellen kann helfen, mit der Angst umzugehen und sie zu überwinden. „Wir sagen zu unseren Sportlern, ‚Du wirst Angst bekommen, super. Kanalisiere und nutze sie'", sagt Josephson. „Für ein bisschen Angst bereit zu sein und ihr nicht davonzulaufen ist großartig."

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