Missbrauchs-Opfer wartet auf Strafe für Täter

33 Knöpfe, daran erinnert er sich noch genau. 33 Knöpfe der priesterlichen Soutane, die nacheinander geöffnet wurden. Die Erinnerung an das, was folgte, war über Jahre in einem Nebel verschwunden, den man in der Psychologie Trauma nennt: Erfahrungen, die zu schlimm sind, um sie zu verarbeiten, werden beiseitegeschoben. Manchmal dauert es Jahrzehnte, bis sie wiederkommen.

So wie bei Stefan K. (Name geändert). Er war elf Jahre alt, als ein Kaplan ihn sexuell missbrauchte. Erst jetzt, mit Mitte 40, ist K. in der Lage, öffentlich darüber zu sprechen. Seine Vorwürfe treffen einen Geistlichen, gegen den schon einmal wegen sexuellen Missbrauchs ermittelt wurde – Peter W., zuletzt Pfarrer der Heilig-Kreuz-Gemeinde in Hohenschönhausen.

Zwanzig Jahre dauerte es, bis Stefan K.s Erinnerung wiederkam – und fast noch einmal so lange, bis er es über sich brachte, öffentlich darüber zu sprechen. Er litt unter psychotischen und neurotischen Störungen, machte Therapien – ein Leidensweg, den so oder ähnlich viele Opfer von Missbrauch erleben. Und auch, dass ihnen nicht geglaubt wird.

Das Wort „Missbrauch“ klinge ihm viel zu harmlos

Stefan K. fällt es schwer, einen Begriff für das zu finden, was ihm angetan wurde. Das Wort „Missbrauch“ klinge ihm viel zu harmlos, sagt er. „Anstiftung zum Suizid wäre wohl treffender.“ Die Tat selbst nennt er nur „es“ – nicht nur, um sich selbst zu schützen. Sondern wohl auch aus Sorge um sein Gegenüber. Fast so, als träfe ihn eine Mitschuld an dem, was ihm angetan wurde. Ein Gefühl, das ebenfalls viele Opfer so oder ähnlich schildern.

„Es“ geschah Mitte der 70er-Jahre in der katholischen Kirche, die er mit seinen Eltern jeden Sonntag besuchte – die St.-Josef-Gemeinde in Weißensee, wo Peter W. Kaplan war. „Ich war elf und suchte jemanden, mit dem ich über meine Probleme sprechen konnte“, sagt Stefan K. Er floh vor den Schlägen seines Vaters, „seine Gewalt war sehr schmerzhaft, nicht nur im körperlichen Sinne“. Seine Mutter war ihm keine Hilfe, „sie wollte oder konnte meine Situation nicht sehen. Auch die Lehrer und Erzieher bekamen nichts mit.“

Er habe das Gefühl gehabt, Kaplan W. sei jemand, dem er vertrauen könne, „auch wenn ich der christlichen Lehre schon als Kind kritisch gegenüberstand“, sagt Stefan K. „Aber Kaplan W. war ein junger Mann und sehr sympathisch. Und er nahm sich Zeit für mich.“

Es war ein Frühlingstag, als „es“ geschah, K. betrat die Sakristei, eine offene Tür führte in den Raum. „Es gab eine Art halbkreisförmigen Gang, in dem sich normalerweise die Priester und Ministranten für den Gottesdienst vorbereiteten. Ein großes Buch lag dort. In diesem Gang habe ich W. getroffen“, erzählt K.

Der Kaplan habe dem Jungen zunächst die liturgischen Gewänder gezeigt, „er erklärte mir das Buch, die Farben der Gewänder und deren Bedeutung“. Dann sprach Stefan K. über sein Problem mit dem Vater. W. habe zunächst auch zugehört, „dann fing das an. Zuerst war es ein Andrücken an mich, ich war ja noch klein und fand das in Ordnung“, sagt Stefan K. „Ich wollte ihm für seine Aufmerksamkeit sozusagen etwas zurückgeben. Dann entblößte W. sich und ich ‚bedankte' mich, so wie ich meinte, dass er es von mir erwartete.“

Er schildert, was er bei der Tat vor Augen hatte. Die Sakristei, die große Tür, die in die Kirche führte und eine weitere, durch die er dann nach draußen stolperte. Und die 33 Knöpfe der Soutane des Kaplans. Laut Liturgie symbolisieren sie die 33 Lebensjahre Jesu Christi.

Für Stefan K. stehen sie für das Verschlossene der Kirche nach außen: Das Schlimme sei nicht der Missbrauch an sich gewesen, sagt er, sondern das, war er das „Abdichten“ nennt: „Indem man zum Beispiel sagt, ‚Gott ist überall, er sieht alles', wird Angst geschürt. Das ist das Schlimmste.“

Nicht willkommen mit „seiner“ Geschichte

Es ist nicht einfach für Stefan K., über jene Zeit zu sprechen. Nicht allein, weil die Rückkehr der Erinnerungen schwere psychische Folgen mit sich brachte. Sondern auch, weil ihm zunächst bedeutet wurde, er sei nicht willkommen mit „seiner“ Geschichte.

1997 war er stationär in Behandlung in einem christlichen Krankenhaus, als „es“ sich als Druckgefühl im Kopf bemerkbar machte. „Wie eine Stahlkugel hinter der Stirn.“ In einem therapeutischen Einzelgespräch kam dann die Erinnerung zurück. „Es fühlte sich an wie ein Vulkanausbruch.“

Er floh vor der Wucht der Gefühle aus dem Raum, hatte Selbstmordgedanken. Doch als die Therapeutin verstand, was mit ihm geschehen war, sagt er, sei das passiert, was er das „Abdichten“ nennt: „Sie drohte, an ihrer Einrichtung würde mir das, was mir geschehen war, noch einmal passieren. Sie wollte mich loswerden, weil sie ein Problem mit meiner Geschichte hatte.“ K. deutet es so: In dem christlichen Krankenhaus durften Taten wie jene, die an ihm verübt wurden, nicht wahr sein.

Auch deshalb ist es ihm heute wichtig, seine Geschichte zu erzählen. Er will, dass „es“ geklärt wird. „Sonst habe ich nicht das Gefühl, dass es im Raum bleibt. Dass es Realität ist.“ Und Stefan K. sagt: Heute hole er nach mit dem Reden, was er all die Jahre versäumt habe.

Pfarrer Peter W. ist für die Staatsanwaltschaft kein Unbekannter. Schon Anfang 2010 hatte sie ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet, auf Hinweis des damaligen Kardinals Georg Sterzinsky. Die Eltern eines der Opfer hatten sich an ihn gewandt – 2001 sollte der Pfarrer ihren Sohn wiederholt sexuell missbraucht haben. Dem Kaplan wurden damals die seelsorgerliche Arbeit und der Kontakt zu Jugendlichen verboten, er wurde von seinen Aufgaben als Pfarrer entbunden und lebt seitdem in einer Privatwohnung. Dem Opfer wurde Hilfe zugesagt – mehr jedoch geschah bisher nicht.

Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen Ende 2010 gegen Kaplan W. ein – möglicherweise, weil das Opfer seine Aussage damals nur bei den Geistlichen gemacht hatte, nicht aber bei den staatlichen Behörden.

Und das kirchliche Ermittlungsverfahren, das 2010 eröffnet wurde, schleppt sich seitdem dahin. Zunächst starb der beauftragte Kirchenanwalt, als ein Nachfolger gefunden war, kam das Verfahren nach Sterzinsky Tod 2011 wieder ins Stocken. „Aber das Verfahren läuft nun“, versichert Stefan Förner, Sprecher des Erzbistums Berlin. Dass es sich hingezogen habe, sei „eine ungenehme Situation für beide Seiten, für Kirche und Opfer“. Förner betont: Die Kirche habe Interesse, den Vorwürfen gegen W. nachzugehen. „Was auf den Tisch muss, muss auf den Tisch.“ Insofern sei es wünschenswert, dass Stefan K. beim Erzbistum aussage.

Der jedoch hat den Täter nicht angezeigt, weder beim Erzbistum noch bei der Polizei – bisher. „Ich möchte von W. zunächst persönlich bestätigt haben, dass die Tat geschehen ist.“ Er hat den Pfarrer angerufen, vor einigen Jahren, und ihn gebeten, über damals zu sprechen. „Aber W. vertröstete mich und behauptete, er wisse von nichts.“ Auch wenn man dieses Leugnen letztlich fast als Bestätigung sehen könne, sagt K.: „Ich wollte, dass er es ausspricht.“

Dann will er wissen: Ob nicht all die anderen Nachrichten in der Welt viel wichtiger seien als seine Geschichte? Seine Geschichte, die nur durch den Nebel des Traumas langsam sichtbar wird, in Teilen, wie bei einem Puzzle, bei dem man das Ganze erst aus der Entfernung erkennt?

Seit Canisius-Skandal ist die Aufmerksamkeit gewachsen

Seit Bekanntwerden der Missbrauchsfälle am katholischen Canisius-Kolleg – Morgenpost Online hatte damals zuerst über den Skandal berichtet – und an anderen kirchlichen Einrichtungen ist die öffentliche Aufmerksamkeit gewachsen. Umgekehrt melden sich immer noch Opfer, die lange geschwiegen haben. Die katholische Kirche und auch das Canisius-Kolleg haben Anwältinnen eingesetzt, die Opfern Hilfe und Unterstützung vermitteln sollen. Denn oft ist es so wie im Fall von Stefan K.: Selbst wenn er den mutmaßlichen Täter anzeigen würde – die Tat ist längst verjährt.

Und daran wird sich vorerst nichts ändern. Zwar kündigte die Bundesregierung schon vor genau einem Jahr an, die Verjährungsfristen bei Missbrauch für zivilrechtliche Ansprüche zu verlängern, von drei auf 30 Jahre. Für das Strafrecht wird diskutiert, ob die Verjährung erst nach Vollendung des 21. Lebensjahrs einsetzen soll statt wie bisher nach Vollendung des 18. Doch das Gesetz befindet sich noch in der parlamentarischen Abstimmung. Plan ist immerhin, das Gesetz noch vor der Sommerpause zur Abstimmung zu bringen.

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