„Mir geht es gut, denke ich“ – Vom Weiterleben nach einem Suizidversuch

Berlin –  

Als Viktor Staudt 1999 im Krankenhaus aufwacht, sind seine Eltern und ein Polizist bei ihm. Staudt hat sich vor einen Zug geworfen und beide Beine verloren. „Ich bin angekommen bei dem Kapitel Null meines Lebens“, schreibt der Niederländer in seiner Autobiografie, die Anfang September in Deutschland erschien.

In „Die Geschichte meines Selbstmords und wie ich das Leben wiederfand“ beschreibt Staudt eindringlich den steinigen Weg zurück ins Leben. Er erzählt von harten Nächten voller Schmerzen, von fröhlichen Ausflügen während seiner Reha und seinem Kampf gegen Depressionen und Angstattacken. Das Buch zeige, wie man Betroffenen und ihren Angehörigen in solchen Krisensituationen helfen kann, schreibt Siegfried Kasper, Professor für Psychiatrie in Wien, am Ende des Buches.
Im Interview erzählt Staudt, warum er das Buch geschrieben hat: Vielleicht könne er einen suizidgefährdeten Menschen noch einmal zum Nachdenken bringen.

In Deutschland bieten mehr als Hundert Telefonseelsorgestellen jederzeit anonyme Beratung unter den bundeseinheitlichen und kostenlosen Telefonnummern 0800 1110111 oder 0800 1110222. Die Mitarbeiter hören zu, nehmen Anteil und verweisen bei Bedarf an andere Einrichtungen, erklärt Georg Fiedler vom Nationalen Suizid-Präventionsprogramm. In Krankenhäusern und psychiatrischen Kliniken gibt es in der Regel Ambulanzen, an die man sich wenden kann, und einen diensthabenden Arzt, der auch in den Nachtstunden erreichbar ist.

Wie kamen Sie dazu, ein Buch über Ihre Erfahrungen zu schreiben?

Viktor Staudt: 2008 war ich auf einer Buchmesse und habe dort einen Mann getroffen, der ein Buch über seine Depression geschrieben hat. Der war um die 40 und sah aus, als würde er gerade von Mallorca zurückkommen. Er hat dem Publikum ausführlich erzählt, was er durchgemacht hat. Da dachte ich zum ersten Mal daran, auch meine Geschichte aufzuschreiben. Ein Jahr später hat sich Robert Enke vor einen Zug geworfen. Das wurde in den Medien ausführlich besprochen. Ich dachte, dazu könnte ich auch etwas sagen, denn ich war dort, wo er auch war. Ich hatte vorher viel Mühe, dazu zu stehen und immer gesagt, dass ich einen Motorradunfall hatte. Damit können andere umgehen, da kann die Konversation auch weitergehen.

Außerdem hätte mich eine solche Geschichte damals auch interessiert, kurz bevor ich die Entscheidung getroffen hatte, mir das Leben zu nehmen: Jemand, der ähnliche Probleme hatte, den Schritt gemacht hat und danach den Weg zurück ins Leben gefunden hat. Zwar kann ich nicht mit Sicherheit sagen, dass ich mich dann anders entschieden hätte, aber ich hätte mir auf jeden Fall die Zeit genommen, noch einmal über die angebotenen Lösungsansätze nachzudenken.

Was ist es für ein Gefühl, Ihre ja sehr persönliche Geschichte zu erzählen und sie nun gedruckt als Buch zu sehen?

Als das Buch in den Niederlanden rauskam, hatte ich schon Schiss. Würden die Leute mich für ein Weichei halten? Doch das Gegenteil war der Fall. Mir wurde gratuliert, dass ich offen und ohne Scham über mentale Probleme rede. Ich erzähle nur meine Geschichte und im Endeffekt ist das auch zweitrangig. Es geht darum, die Themen Suizid und Depression zu thematisieren, ich bin nur die Verpackung. Man fühlt sich schon etwas nackig. Es ist eine persönliche Sache, die an die Substanz geht. Aber wenn ich die vielen Rückmeldungen lese, zeigt das die Notwendigkeit.

Wie war die Reaktion auf das Buch?

Hunderte haben mir geschrieben und sich bedankt, dass ich meine Geschichte erzählt habe. Und ich habe eine Menge Rückmeldungen von Betroffenen bekommen. Natürlich schreibt keiner „Hey, ich habe das Buch gelesen, alles ist wieder gut, danke und tschüss.“ Das wäre auch Blödsinn. Es geht mir darum, dass sich diese Menschen etwas Extrazeit nehmen, in der Hoffnung, dass sie am Ende die Kurve bekommen. Leute, die wegen Depressionen, Psychosen oder aus anderen Gründen vorhaben, sich das Leben zu nehmen, werden sich von der Tatsache, dass man ohne Beine im Rollstuhl landen kann, nicht abschrecken lassen. Es geht vielmehr darum zu zeigen, dass es tatsächlich noch eine Möglichkeit gibt, von den Problemen wegzukommen - auch wenn man selbst schon längst nicht mehr daran glaubt.

Können also Gespräche mit anderen Betroffenen helfen?

Auf jeden Fall. Ich höre immer wieder von Leuten: Ich war beim Arzt, der versteht mich nicht. Die Leute meinen, ich verstehe sie. Ob das so ist, ist eine andere Frage. Ich bin in dieser Richtung nicht ausgebildet. Doch zumindest verstehe ich die Verzweiflung. Im Endeffekt möchten diese Menschen auch noch weiterleben, wie ich eigentlich auch wollte. Aber nicht mehr in diesem Leben, nicht mehr unter diesen Umständen.

Wie geht es Ihnen heute?

Mir geht es gut, denke ich. Viele Leute fragen mich, ob ich glücklich bin. Das ist eine absolut miese Frage. Sage ich nein, gibt es Panik: „Oh, was macht er jetzt, springt er heute vom Balkon“. Wenn ja sage, denken sie, alles ist Friede Freude Eierkuchen. Ich kann jetzt funktionieren. Ich kann einkaufen, mich unterhalten, ins Kino gehen. Das hat nichts mit Glücklichsein zu tun. Da hat jeder seine eigene Definition. Besser geht es mir auf jeden Fall, wesentlich besser sogar. (dpa)

Der Niederländer Viktor Staudt, Jahrgang 1969, studierte Jura und arbeitete zehn Jahre für eine Fluggesellschaft. Nach seinem Suizidversuch wegen Depressionen und Angstattacken lebte er fast zehn Jahre in Deutschland und der Schweiz, mittlerweile lebt er in Italien. Staudt hält Vorträge und veranstaltet Workshops zum Thema Suizidprävention. Seine Lebensgeschichte wurde 2012 in den Niederlanden veröffentlicht, Anfang September 2014 erschien „Die Geschichte meines Selbstmords und wie ich das Leben wiederfand“ in Deutschland.

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