Metzler: Die "Psychologie der Nullzinspolitik"

In seinem Kapitalmarktausblick für die kommende Woche berichtet Edgar Walk, Chefvolkswirt des Metzler Asset Management, über psychologische Studien, die die Folgen von großer Katastrophen untersucht haben - unter anderem auch von Wirtschaftskrisen.

Nach einer schweren Finanzmarktkrise ändert sich das Verhalten der Unternehmen und Konsumenten grundlegend, sodass die Geldpolitik eine andere Wirkung erzielt als in normalen Zeiten. Eine "zu frühe" Leitzinserhöhung könnte vor diesem Hintergrund mit erheblichen Konjunkturrisiken verbunden sein und spricht für eine abwartende Haltung der Zentralbanken. Die Risiken von erheblichen Ansteckungseffekten unabhängig vom Ausgang des Referendums in Griechenland hält Walk nach wie vor für begrenzt - zumal vor dem Hintergrund einer soliden Wirtschaftsentwicklung in Europa und in den USA.

Nullzinspolitik im Fokus 

Der Chefvolkswirt der Bank von England, Andrew Haldane, beschrieb diese Woche in einer sehr interessanten Rede die Hintergründe für die ungewöhnlich lange Periode der Nullzinspolitik. Psychologische Studien zeigen, dass große Katastrophen eine tief verwurzelte Angst und Verunsicherung bei den Beteiligten auslösen, die eine merkliche Überschätzung der Risiken einer erneuten Katastrophe zur Folge haben. Die Ängste und Verunsicherungen lassen dabei erfahrungsgemäß nur sehr langsam nach, und es kann bis zu einer Generation dauern, bis die Risikoeinschätzung wieder auf ein normales Maß zurückkehrt, wie psychologische Studien über die Große Depression gezeigt haben. 

Eine große Finanzmarktkrise ändert daher das grundsätzliche Verhalten der Konsumenten und Unternehmen. Normalerweise werden in guten wirtschaftlichen Zeiten die Ausgaben merklich erhöht. Schlechte Zeiten werden als nur temporär wahrgenommen – dann werden Kredite aufgenommen, um den Einkommensausfall auszugleichen. Nach einer schweren Finanzmarktkrise hingegen werden gute wirtschaftliche Zeiten eher dazu genutzt, die eigene Bilanz zu verbessern, und die Ausgaben werden nur moderat gesteigert, während bei einer Verschlechterung der Wirtschaftslage die Risikobereitschaft schnell sinkt und die Ausgaben merklich gekürzt werden. Das grundsätzlich (neue) vorsichtige Verhalten der Konsumenten lässt sich beispielsweise daran ablesen, dass viele Konsumenten den Rückgang des Ölpreises in den vergangenen Monaten zu einer Erhöhung der Sparquoten genutzt haben und nicht, wie in der Vergangenheit üblich, zu höheren Konsumausgaben. 

Das „asymmetrische“ Verhalten von Unternehmen und Konsumenten erschwert die Wirksamkeit der Geldpolitik ungemein. Eine expansive Ausrichtung der Geldpolitik ist deutlich weniger effektiv als in der Vergangenheit, und realwirtschaftliche Abschwünge erfordern darüber hinaus eine deutlich stärkere geldpolitische Reaktion. In diesem Umfeld kann eine zu frühe Leitzinserhöhung äußerst kontraproduktiv wirken. Zentralbanken vieler Länder haben damit Erfahrung: So erhöhte die Zentralbank in Japan den Leitzins in den Jahren 2000 und 2006, die Zentralbanken in Australien und Norwegen ab 2009, in Schweden ab 2010, die Europäische Zentralbank und die isländische ab 2011, 2014 folgte die Zentralbank in Neuseeland. All diese Zentralbanken mussten innerhalb nur weniger Monate den Zyklus der Leitzinserhöhungen wieder abbrechen und in der Folge den Leitzins aggressiv senken. 

Die US-Notenbank und die Bank von England scheinen vor diesem Hintergrund große Angst davor zu haben, den Leitzins „zu früh“ anzuheben. Beide Zentralbanken scheinen sogar bewusst ein Überschießen der Inflation in Kauf zu nehmen. Vor diesem Hintergrund schätzen die Finanzmarktteilnehmer eine Leitzinserhöhung der Fed im September mit einer Wahrscheinlichkeit von nur noch 29 % und im Dezember von immerhin noch 67 %. Naheliegend ist jedoch, dass die Fed schon im September den Leitzins anhebt und erst einmal die Reaktion der Realwirtschaft abwartet. Das Protokoll der Fed-Sitzung (Mittwoch) vom 17. Juni könnte hierbei Aufschluss über die Strategie der Fed geben. Auch in Großbritannien sprechen die robuste Konjunkturdynamik, die niedrige Arbeitslosenquote und die steigenden Löhne eigentlich schon jetzt für eine Leitzinserhöhung. Die Bank von England (Donnerstag) wird wahrscheinlich jedoch erst bis zum zweiten Quartal 2016 abwarten.

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