Marxismus erster Person

Friedrich Engels schrieb über die bedeutenden Intellektuellen der Renaissance, ihnen sei eigen, »daß sie fast alle mitten in der Zeitbewegung, im praktischen Kampf leben und weben, Partei ergreifen und mitkämpfen, der mit Wort und Schrift, der mit dem Degen, manche mit beidem«.1 In dieser großen Tradition wissenschaftlich-politischen Engagements stand im 20. Jahrhundert ein Marxist, den sein Kampf gegen den Faschismus und für eine sozialistische Gesellschaft das Leben kostete. Sein Name ist heute kaum bekannt, doch verhalf seine Arbeit manchem der von ihm beeinflußten Nachfolger zu Ruhm. Georges Politzer wurde am 3. Mai 1903 in Ungarn, in Nagyvárad geboren, dem heute zu Rumänien gehörigen Oradea. Das Internetlexikon Wikipedia behauptet, er habe schon als Jugendlicher 1919 an den Kämpfen zur Verteidigung der Ungarischen Räterepublik unter der Führung Béla Kuns (1886–1939) teilgenommen. Quellen dafür gibt der Artikel allerdings nicht an. Sicher ist, daß der junge Politzer mit seiner Familie 1921 emigrierte, da sein Vater nach der Niederschlagung der Revolution und der Errichtung der Horthy-Diktatur politische Verfolgung fürchten mußte. Auch Béla Kun hatte der rechten Soldateska entkommen können; er ging später ins sowjetische Exil und wurde im Zuge der von Stalin zu verantwortenden »Säuberungen« ermordet.

An der Arbeiteruniversität

Nach einem Aufenthalt in Wien ließ sich Politzer schließlich in Paris nieder, wo er Psychologie und Philosophie studierte. Zu seinen Freunden gehörten der Philosoph Henri Lefebvre (1901–1991) und der Schriftsteller Paul Nizan (1905–1940), beide Gründer der Zeitschrift Revue marxiste und Mitarbeiter des kommunistischen Theorieorgans Cahiers du bolchévisme. Ende der 1920er Jahre traten die jungen Intellektuellen der Französischen Kommunistischen Partei PCF bei. Politzer schloß das Studium ab und arbeitete zunächst als Gymnasiallehrer. Im Parteiauftrag war er ab 1932 für die Université Ouvrière, die Pariser »Arbeiteruniversität«, tätig, bis zu deren staatlich erzwungener Auflösung 1939. Zudem war er für einige Zeit stellvertretender Chefredakteur der L’Humanité und Leiter des Dokumentationszentrums der Partei. Eine Frucht dieser Jahre ist ein Einführungsband in die marxistische Philosophie – Principes élémentaires de philosophie – der auch noch nach dem Krieg mehrfach aufgelegt und von der PCF als Schulungsliteratur benutzt wurde. Der Schriftsteller Jorge Semprún (1923–2011), der nach seiner Flucht aus Franco-Spanien in Paris gelebt hatte, erklärte 2007 in seiner Rede anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Potsdam, er habe den Marxismus zuerst durch eine Schrift Politzers kennengelernt.

Kritisch setzte sich Politzer in einem weiteren Buch mit der idealistischen Philosophie Henri Bergsons (1859–1941) auseinander, ohne es allerdings beim rein literarischen Angriff zu belassen. Überliefert ist die kuriose Anekdote, er habe sich Bergson an dessen Lesetisch in der Bibliothek gegenüber gesetzt und geräuschvoll belegte Brote gegessen oder Salatblätter an eine mitgebrachte Schildkröte verfüttert. Auf diese Weise wollte er die Materialität und Sinnlichkeit der Lebenserhaltung zeigen und Bergsons Annahme eines allgemeinen »élan vital« ad absurdum führen.

Der Nachruf auf seinen Kontrahenten mußte illegal unter deutscher Besatzung, in der Zeitschrift La pensée libre, erscheinen. Aus Protest gegen antisemitische Gesetze hatte sich Bergson vor seinem Tod demonstrativ zu seinem Judentum bekannt. Seine jüdische Herkunft wurde durch die faschistische Presse teils verschwiegen, teils betont, insgesamt rühmte man aber seine »Kritik am Materialismus«. Politzers Urteil fiel hart aus. Wie Mussolini, so habe auch der deutsche Hitlerismus viel von Bergson geborgt. Dessen Lehre sei in den Zeitungen als eine Philosophie des »Übergangs« bewertet worden, was im demagogischen Vokabular des Rassismus bedeute, daß sie den Boden für einen Obskurantismus des 20. Jahrhunderts bereitet habe.

Unter der Nazibesatzung konzentrierte sich Politzer auf antifaschistische Schriften für den Geheimverlag der PCF. Während der Herstellung und Verbreitung einer Kritik an Alfred Rosenbergs antisemitischer und rassistischer Ideologie flog seine Résistance-Zelle auf. Deren Mitglieder, unter ihnen die Schriftstellerin Charlotte Delbo (1913–1985), wurden von französischer Polizei verhaftet. Die Widerstandskämpferin Marie-Claude Vaillant-Couturier (1912–1996), die mit Politzer inhaftiert war, berichtete 1946 als Zeugin im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß: »Ich konnte mich (…) durch die Kanalisation mit meinen Nachbarn in Verbindung setzen. In den Zellen neben mir befanden sich der Philosoph Georges Politzer und der Physiker Jacques Solomon (…). Georges Politzer erzählte mir durch die Kanalisation, daß er bei seinem Verhör, nachdem man ihn gefoltert hatte, gefragt wurde, ob er nicht theoretische Schriften für den Nationalsozialismus schreiben wolle. Da er ablehnte, wurde ihm gesagt, daß er zur ersten Gruppe von Geiseln gehören werde, die erschossen werden sollten.« Man übergab ihn den Deutschen, die ihn am 23. Mai 1942 ermordeten. Seine Frau Maï, Ärztin und ebenfalls Kommunistin, wurde zusammen mit Delbo und Vaillant-Couturier ins Konzentrationslager Auschwitz verschleppt und starb dort 1943 an Typhus.

Ein Fach in der Krise

Politzers vielleicht wichtigste Werke zur Kritik der Psychologie erschienen erst in den 1970er Jahren in deutscher Sprache. Bei seinem Aufenthalt in Wien 1921 war er Sigmund Freud (1856–1939) und Sándor Ferenczi (1873–1933) be­gegnet, was sein Interesse für das Fach geweckt haben soll. Während seine Freunde Lefebvre und Nizan an ihrer Revue marxiste arbeiteten, war er 1929 mit der Herausgabe einer eigenen Zeitschrift beschäftigt, der Revue de psychologie concrète. Obwohl damals prominente Psychoanalytiker und Tiefenpsychologen wie Otto Rank (1884–1939) oder Alfred Adler (1870–1937) Texte beisteuerten, mußte das Blatt bereits nach einem Jahr sein Erscheinen wieder einstellen.

In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zeichnete sich allgemein ab, daß die junge Wissenschaft vor großen Umwälzungen stand. Unabhängig voneinander schrieben Lew Wygotski (1896–1934) in der Sowjetunion und Karl Bühler (1879–1963) in Österreich an Büchern über die Krise der Psychologie. Politzer wiederum reagierte in Frankreich mit seinen grundsätzlichen Kritiken am Zustand des Fachs auf Bühler. Die von ihm »klassisch« genannte und auf Wilhelm Wundt (1832–1920) und seinen US-amerikanischen Schüler Edward B. Titchener (1867–1927) zurückgehende Psychologie jener Zeit war der sogenannte Strukturalismus: Dieser versuchte, durch Experimente und durch Selbstbeobachtungen der Versuchspersonen, die Strukturen eines natürlichen, ahistorischen menschlichen »Geistes« zu identifizieren. Politzers Einwände beziehen sich auf mehrere Punkte. Die »klassische« Psychologie verdingliche Begriffe wie »Willen«, »Gedächtnis« oder »Assoziation« und verlege sie ins Individuum hinein. Dadurch entstehe ein nicht verifizierbares »Innenleben«, in dem diese Faktoren miteinander interagieren sollen, eine »zweite Physik«, die im Unterschied zur wirklichen jedoch nicht in der Lage sei, überprüfbares Wissen zu liefern und praktische Veränderungen zu bewirken: »Der Psychologe weiß nichts und kann nichts. Er ist der arme Verwandte in der großen Familie der Diener der Wissenschaft.« Er gehe nicht »von den Tatsachen zu den Begriffen und Theorien, sondern umgekehrt. (…) Man untersucht z.B. den Willen. Aber man greift nach Zufall irgendetwas heraus (…): das Individuum, die Gesellschaft, die Assoziation von Vorstellungen, die Erblichkeit, Hormondrüsen. Der ›Wille‹ erscheint dann als unbegrenzt dehnbar, alle Theorien scheinen auf ihn zu passen, denn da man ihn jedesmal aus der Sicht der Theorie angeht, kann er keine ausschließen.«

Erfahrung, wie sie im Alltag gemacht wird, komme in der klassischen Psychologie nicht vor, vielmehr würden an die Stelle von Erlebtem unpersönliche Prozesse gesetzt. »Man sagt uns nämlich: Vorstellungen haben sich assoziiert, Neigungen sind erwacht, Triebe sind entfesselt worden.« Die Psychologie berichte »keine Geschichten von Personen, sondern Geschichten von Dingen« und interessiere »sich nicht für das, was das Subjekt erzählt, sondern für das, was in seinem Geist vor sich ging, als es redete …«.

Politzer warnt, man dürfe sich weder durch die vermeintliche Exaktheit experimenteller Messungen noch durch Anleihen bei den Naturwissenschaften täuschen lassen. Die Vertreter der »klassischen« Psychologie bezögen »die Mathematik aus dritter Hand: von den Physiologen, die sie von den Physikern bekommen haben, und nur diese haben sie ihrerseits von den Mathematikern selber. Die Wissenschaftlichkeit verringert sich von Stufe zu Stufe (…). Das gleiche gilt für die experimentelle Methode. Der Physiker hat davon eine ernst zu nehmende Auffassung; er spielt nicht mit ihr, einzig in seinen Händen wird sie stets eine rationale Technik sein, ohne zur Magie zu verkommen. (…) Aber was soll man vom Psychologen sagen? Bei ihm ist alles nur noch Pomp. Seinen Protesten gegen die Philosophie zum Trotz sieht er die Wissenschaft einzig und allein durch die Gemeinplätze vermittelt, die sie ihn über seinen Gegenstand gelehrt hat. Und da man ihm beigebracht hat, daß Wissenschaft Geduld voraussetze, glaubt er, die Geduld selbst sei eine Methode, und es genüge, blindlings Details zu suchen, um den ›synthetischen Messias‹ anzulocken. So stelzt er denn zwischen seinen Apparaten umher, stützt sich bald auf die Physiologie, bald auf die Chemie, bald auf die Biologie. Er akkumuliert statistische Mittelwerte und ist überzeugt, daß man, um sich der Wissenschaft zu bemächtigen, ebenso verdummen muß, wie um den rechten Glauben zu erlangen.« Man betreibe einen »kolossalen Aufwand« und sei »nie zufrieden« mit den Apparaturen, »nur mit einer Sache ist man völlig zufrieden: der Konzeption des Sachverhalts, zu dem man Experimente macht, und genau diese ist absolut ungenügend.«

Erneuerung der Psychologie

Als einen wichtigen Reformansatz betrachtet Politzer den von John B. Watson (1878–1958) begründeten Behaviorismus. Dieser ersetzte die Spekulationen über den menschlichen Geist durch die Beobachtung des Verhaltens, das er auf Reize, Reaktionen, Konditionierungen und bedingte Reflexe zurückführte. Zu ähnlichen Ansichten wie Watson waren in Rußland und der Sowjetunion Iwan P. Pawlow (1849–1936) sowie Wladimir Bechterew (1857–1927) mit seiner »Reflexologie« gelangt. Den Behaviorismus beurteilt Politzer zwar als fortschrittlich und materialistisch, findet ihn aber letztlich nicht überzeugend, denn er rette die Objektivität auf Kosten der Psychologie. Watson, der die Konditionierung von Organismen ins Zentrum seiner Theorie gerückt hatte, entwarf übrigens später Reklame für die Zigarettenmarke »Lucky ­Strike«.

So scharf sich Politzer einerseits gegen den Idealismus wendet, so entschieden kritisiert er andererseits einen auf biologische Vorgänge reduzierten Materialismus. Diesem sei es unmöglich, »zum Materialismus in den menschlichen Angelegenheiten vorzustoßen«; historische Tatsachen könne er sich nur durch »Molekularbewegungen im Gehirn« eines »Befehlshabers« erklären.

Die spezifisch menschliche »Bedeutungsebene«, die dabei ausgeklammert wird, nennt Politzer »dramatisch«: »Die Ereignisse, die uns zustoßen, sind dramatische Ereignisse (…); wir wissen uns als Urheber oder Zeugen dieser oder jener Szenen oder Aktionen; wir erinnern uns, eine Reise gemacht zu haben, gesehen zu haben, wie Leute sich auf der Straße schlugen, eine Rede gehalten zu haben. Dramatisch sind auch unsere Intentionen: wir wollen heiraten, ins Kino gehen etc.« Das Drama sei »Stoff für eine eigene Wissenschaft. Diejenigen Naturwissenschaften, die sich mit dem Menschen befassen, untersuchen nämlich nur das, was übrig bleibt, wenn man einmal den Menschen seines dramatischen Charakters beraubt hat. Aber (…) die Gesamtheit der ganz besonderen Dinge, die sich für uns zwischen Leben und Tod abspielen, bilden ein klar abgegrenztes, leicht erkennbares Gebiet, das nicht mit der Funktionsweise der Organe zusammenfällt …«.

In diesem Sinne fordert Politzer eine »Psychologie ›in der ersten Person‹«, die die »dramatischen« Alltagserfahrungen von Menschen zum Ausgangspunkt ihrer Forschung nimmt. Als positives Beispiel nennt er das zweite große Reformprogramm jener Zeit neben dem Behaviorismus, die Theorie Sigmund Freuds. Die Psychoanalyse beginne mit den »Berichten« ihrer Patienten von Erlebnissen oder Träumen. Sie entschlüssele den lückenhaften und verborgenen Sinn dieser Berichte und erreiche dadurch nicht nur eine Erklärung von Phänomenen, die bis dahin als unsinnig erschienen sind, sondern auch praktische Veränderungen, nämlich im besten Fall die Beseitigung von psychischen »Symptomen«. Politzer argumentiert, das Verfahren sei objektivierbar, weil man die »Berichte« mit objektiven Mitteln untersuchen könne, ohne daß Methode und Ergebnis mit den persönlichen Überzeugungen der Patienten übereinstimmen müssen. Darüber hinaus könne man auch Experimente durchführen, die allerdings nicht die Wahrnehmung abstrakter menschlicher Organismen erforschen sollen, sondern beispielsweise die Erfahrung von Arbeitern mit den Lichtverhältnissen in der Fabrik. Zwar müsse die Psychologie als angehende Wissenschaft auch zu Abstraktionen und Verallgemeinerungen gelangen, es sei aber aussichtslos, mit diesen zu beginnen. Mit seiner »konkreten« Psychologie wendet sich Politzer ausdrücklich nicht gegen Abstraktionen überhaupt, sondern nur gegen die Abstraktion vom »Drama«. Auch die Psychoanalyse sei nicht radikal genug, weil sie in mancher Hinsicht noch der überkommenen »klassischen« Psychologie ähnele. Sie verlasse die »dramatische« Ebene, wenn sie über die Libido und ihre »Triebabkömmlinge« spekuliere.

Politzer bemüht sich, die von ihm programmatisch umrissene »konkrete Psychologie« ins Verhältnis zu anderen Wissenschaften zu setzen. Eine Spezifik des Fachs sah er in der Aufmerksamkeit für die individuelle Erfahrung. Die Ökonomie genüge hierfür nicht; sie könne lehren, »welches die ökonomischen Bedingungen des Verbrechens sind, warum es in einer bürgerlichen Gesellschaft notwendigerweise Verbrechen geben muß, aber nicht, warum gerade dieses Individuum gerade dieses Verbrechen begangen hat.« Trotzdem sei die konkrete Psychologie »nur möglich, insofern sie in die Ökonomie eingefügt ist. Aus diesem Grund setzt sie alle Kenntnisse voraus, die der dialektische Materialismus erarbeitet hat …«.

Scheinbarer Ausweg

Daß Politzer seine Bemühungen um die Entwicklung dieses Ansatzes in den 1930er Jahren einstellte, dürfte mehrere Gründe gehabt haben. Es wurde klar, daß die weitere Ausarbeitung die Kräfte eines Einzelnen bei weitem überstiegen hätte. Zu viele Fragen waren noch völlig offen: Wie hängen die psychischen Leistungen von Menschen mit deren Biologie zusammen? Worin besteht und welche Grenzen hat die Gemeinsamkeit von Human- und Tierpsychologie? Kann die neue Psychologie einen Beitrag zur Kritik von Ideologie leisten? Welches sind ihre Forschungsmethoden? Von der Psychoanalyse, in deren Weiterentwicklung er große Hoffnungen gesetzt hatte, war Politzer bald enttäuscht. Mehr noch, er warf ihr sogar vor, sie sei konterrevolutionär, weil sie nichts zum Kampf gegen den Faschismus beitragen könne. Das führt zum zweiten anzunehmenden Grund für seine Abwendung von der Psychologie: Seine Einführungen in den Marxismus an der Arbeiteruniversität und mehr noch die antifaschistische Arbeit konfrontierten ihn mit Fragestellungen und Aufgaben, die kaum etwas mit seinen früheren Veröffentlichungen zu tun hatten. Sein Freund Lefebvre führt außerdem einen dritten Gesichtspunkt an, wenn er sich an die damaligen Diskussionen unter Kommunisten erinnert: »Das war sogar eine Art Gemeinplatz: Der Marxist kümmert sich nicht um die Psychologie, diese Pseudowissenschaft der Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft. Auf diese Haltung ist die Selbstverstümmelung eines überaus begabten Psychologen (…) zurückzuführen, der die Psychologie zugunsten von politischer Ökonomie und Journalismus aufgab.«

Nach dem Zweiten Weltkrieg hoffte man in der Psychologie auf einen Ansatz, der das Fach aus der Krise herausführen sollte. Der methodische Operationalismus definiert Begriffe oder »Konstrukte« durch die Operationen, mittels derer sie empirisch überprüft werden sollen. Empirie wird dabei weitgehend mit den Ergebnissen von Experimenten und Tests gleichgesetzt. Vereinfacht gesagt, Intelligenz ist, was ein Intelligenztest mißt, »Einstellungen« lassen sich durch Einstellungsskalen ermitteln usw. Allerdings werden dadurch die vorausgesetzten Begriffe tendenziell der Kritik entzogen. Und sie vervielfältigen sich in dem Maße, wie jeder akademische Fachvertreter seine eigene operationale Fassung eines Konstrukts entwickeln kann. Der Psychologiehistoriker Michael Wertheimer, Sohn des in die USA emigrierten »Gestalttheoretikers« Max Wertheimer (1880–1943), hält das für einen Erfolg. Er schwärmt von den weitverzweigten Anwendungsmöglichkeiten, die letztlich auf eine Manipulationslehre hinauslaufen: »Unternehmensberater beschäftigen sich mit Personalproblemen, industrieller Organisation und Stellenverteilung, es gibt Anzeigenberater, Experten für Meinungsforschung (…); man bemüht sich, alles vorherzusagen, von den Wahlergebnissen angefangen bis zur Reaktion des Verbrauchers auf (…) den Erfolg eines Werbeslogans. Heerespsychologen befassen sich mit Persönlichkeits- und Eignungsprüfungen, mit der Ausarbeitung von Trainingsmethoden, mit Führungsfragen und psychologischen Fragen der Weltraumforschung.«

Abermals entstand so eine Psychologie, in der nicht Geschichten von Menschen, sondern von Dingen erzählt werden, nur daß an die Stelle angenommener fixer Entitäten eben Konstrukte getreten sind. Die Frage nach dem Realitätsgehalt dieser Konstrukte droht zurückzutreten hinter den Auftrag, der ihnen innerhalb der gegebenen kapitalistischen Verhältnisse gemeinhin zugedacht wird. So kehren die Probleme, die Politzer aufgezeigt hatte, in veränderter Form zurück.

Trotzdem – oder deswegen – ist Politzer heute nur wenig bekannt. Die Philosophen Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) und Jean-Paul ­Sartre (1905–1980) haben wichtige Einsichten von ihm übernommen. Louis Althusser (1918–1990) nennt Politzer den »Feuerbach der Gegenwart«, der sich »verzweifelt« durch »Anrufung des Konkreten« von Ideologie befreien wolle. Lucien Sève entgegnet dem in seinem Buch »Marxismus und Theorie der Persönlichkeit« (DDR- und BRD-Ausgabe 1972) mit dem bereits erwähnten Hinweis, daß Politzer mit dem Begriff nur gegen bestimmte Abstraktionen von der »Bedeutungsebene« des »Dramas« polemisierte. Das Projekt einer »konkreten« Psychologie sei seiner Zeit vorausgeeilt, und es sei kein Zufall, daß es mit dem historischen Materialismus nur ansatzweise vermittelt ist; wichtige Werke von Marx und Engels wie die »Feuerbachthesen«, die »Deutsche Ideologie« und die »Grundrisse« wurden erst 1932 veröffentlicht.

Klaus Holzkamps (1927–1995) »Kritische Psychologie« konnte in den 1970er Jahren als marxistische Einzelwissenschaft konzipiert werden und weist bemerkenswerte Parallelen zu Politzers Ansatz auf: Auch Holzkamp fordert eine »Psychologie erster Person«, die an Menschen als Subjekte adressiert ist. Seine Kritik richtet gegen den psychologischen Mainstream seiner Zeit; sich gegen die »Weltlosigkeit« der psychologischen Konstrukte; gegen die »Leihwissenschaftlichkeit«, die, statt eine eigene Wissenschaftssprache zu entwickeln, ihre Begriffe ohne weitere Prüfung der Biologie oder den Informationswissenschaften entlehnt; gegen Experimente, die Aussagen nicht empirisch untersuchen, sondern nur veranschaulichen. Wie andere Autoren vor ihm, entlarvt er viele experimentelle Sätze als tautologisch, etwa den Satz, daß auf eine »Belohnung« ein bestimmtes Verhalten folgt; was für einen Menschen oder einen Organismus eine Belohnung ist, kann nicht unabhängig vom Verhalten definiert werden.

Was bleibt von den Werken Politzers und seiner Nachfolger? Die Geschichte der Psychologie ist die Geschichte der Verdrängung ihrer marxistischen und herrschaftskritischen Fachvertreter. Es mag sein, daß man diese Psychologen heute an den Hochschulen kaum noch findet, daß ihre Schriften nicht mehr gelesen und vielleicht sogar von den akademischen Bibliothekaren auf Geheiß der verantwortlichen Gremien aussortiert werden. Aber solange das Fach seine grundsätzlichen Probleme nicht löst, wird es unter Studierenden und Lehrenden immer wieder Unzufriedene geben, die sich damit nicht abfinden wollen. Und so lange sind die Werke Politzers von mehr als nur historischem Interesse, wie immer man die darin enthaltenen Argumente im einzelnen beurteilen mag.

Anmerkung

1 Friedrich Engels, Dialektik der Natur, zit. n. MEW 20, S. 312

Werke von Georges Politzer in deutscher Sprache

– Kritik der Grundlagen der Psychologie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1978 (Orig. Critique des fondaments de la psychologie. La psychologie et la psychoanalyse, Edition Rieders, Paris 1928)

– Kritik der klassischen Psychologie, Europäische Verlagsanstalt, Köln 1974 (Die Texte erschienen erstmals 1929 in der Zeitschrift Revue de psychologie concrète)

Michael Zander ist Psychologe und lebt in Berlin

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