Köln -
Welch ein Buch! In Patrick Roths „Buch Joseph“ geht es nicht etwa um den alttestamentlichen Stammvater, über den Thomas Mann vier große Romane geschrieben hat. Nein, Patrick Roth hat sich in fünfjähriger Arbeit eines anderen Josephs angenommen: des Vaters von Jesus. Joseph von Nazareth ist eine Schattenfigur in den Evangelien. Kein Wort von ihm ist überliefert, selbst in der Tempelszene ist es die Mutter Maria, nicht der Vater, die sich über den entlaufenen Sohn entrüstet. Josef ist der stumme Teil der heiligen Familie. Auch sein Tod liegt im Dunkel der Überlieferung. Patrick Roth holt ihn dort heraus. Erzählt wird ein Epos von enormen Ausmaßen, bibeltief und zugleich modernefreundlich, filmscharf geschnitten und spannend fast wie ein Krimi zu lesen.
Mit Recht hält die Heidelberger Germanistin Michaela Kopp-Marx, unter den Roth-Exegeten die gescheiteste, den Roman „Sunrise“ – schon allein des fast 500-seitigen Umfangs wegen – für den Anfang einer neuen Phase im Schaffen des Autors. Gleich zu Beginn wird der Leser hineingezogen ins Geschehen: Man schreibt das Jahr 70 nach Christus, Jerusalem ist von den Römern belagert, die Eingeschlossenen hungern. Da stehlen sich zwei „Spione des Herrn“ in die Stadt, Abgesandte einer urchristlichen Gemeinde, mit dem Auftrag, die Erinnerung an das Grab Jesu zu sichern. Während eines Sandsturms, der in der Stadt tobt, geraten sie in die Hütte einer ägyptischen Magd namens Neith. Sie erzählt den beiden eine Geschichte, die immer ungeheuerlichere Ausmaße annimmt.
Es ist die Geschichte von Joseph von Nazareth. Der war ein Baumeister und Zimmermann, und bereits einmal mit einer Maria verheiratet. Das gemeinsame Kind ertrank bei einem Sturm auf dem See Genezareth. Joseph wird von Schuldgefühlen geplagt. Zufällig rettet er einen ägyptischen Sklaven, der vom Aufseher eines feudalen Landhauses gefoltert wird. Maria, seine neue Verlobte, hilft ihm, den in einer Zisterne Versteckten zu versorgen. Später kehrt Joseph in das Landhaus zurück. Es steht in Brand, Joseph rettet ein Kind. Es ist die Tochter jenes ägyptischen Sklaven: Neith, die spätere Erzählerin. Sie wiederum begegnet Joseph an zwei weiteren entscheidenden Stellen des Romans. Einmal in einer Höhle, wohin sie vor einem Massaker geflüchtet ist, das Räuber unter Jerusalempilgern angerichtet haben. Dort ist auch Joseph, der unfreiwillig in die Gesellschaft der Räuber geraten ist. Die zweite Begegnung folgt in Jerusalem. Dort soll Neith im Auftrag ihres sterbenskranken Herrn ein Felsengrab bauen lassen. Sie gewinnt für diese Aufgabe Joseph und die Raubgesellen.
Zwei der Räuber sind die Schächer, die neben Jesus gekreuzigt wurden. Und das Grab – es wird Jesu eigenes. Vater und Verbrecher bauen es, ihre Auftraggeberin Neith webt sein Leichentuch: Diese Zusammenhänge sind so erstaunlich, dass sich der Leser manches Mal die Augen reiben mag. Aber sie liegen offen zutage in Josephs Lebensgeschichte.
Roth hat aus den Überlieferungen und in eigenwilliger Sprache ein Romanwerk errichtet, das uns einen anderen Joseph vorstellt als den, den wir aus dem Neuen Testament zu kennen meinen. Aus dem blassen Ziehvater Jesu wird eine faszinierende Rettergestalt voller Widersprüche. Einer, der sich, anders als einst Abraham, Gottes Willen widersetzt, seinen Sohn auf dem Berg Sinai zu opfern. Der mit seinem Gott hadert wie Hiob und rechtet wie Jona. Einer, der hochsensibel träumt und Träume deutet, der tief verletzbar ist in der Seele und am Körper. Nichts Menschliches und auch nicht die „innerste Hölle“ ist ihm fremd. Engel und Propheten sprechen ihn an. Ein gelungener Einfall: Joseph ist ein argloser Konkurrent Gottes um die Gottesvaterschaft.
Patrick Roth erfindet einen Joseph, der so nicht in der Bibel steht. Dieser Joseph ist eine sehr neuzeitliche Figur: religiös musikalisch, aber an seinem Glauben zweifelnd, demokratisch selbst gegenüber dem Raubgesindel, aber von der Gewalt versucht. Roths Joseph geht den Dingen auf den Grund. Kein Zweifel – der Autor erzählt eine biblische und zugleich moderne Geschichte, temporeich, kunstvoll verzögernd, mit präzisen Einstellungen auf Menschliches und Mehr-als-Menschliches. Ein Bibel-Roman für unsere Zeit.
Er erzählt von der „Auferstehung im Leben“ – ohne Esoterik oder Mystik, mit vielen Zeitbezügen und Suspense. Das gilt auch für die Erzählungen „Die Nacht der Zeitlosen“ (2001) und „Starlite Terrace“ (2004). (mbr)
Patrick Roth: „Sunrise. Das Buch Joseph“, Wallstein, 510 Seiten, 19,99 Euro.