Leipziger Entwicklungspsychologin Kunzmann sucht Schlüssel zur Weisheit

Was ist Weisheit? Kann man sie erlernen? Steigt sie mit dem Alter? Diesen Fragen geht Ute Kunzmann, Professorin am Institut für Psychologie der Universität Leipzig, auf die Spur und hat mitunter überraschende Antworten. Im Campus-Interview spricht sie über die Psychologie der Weisheit, Intellekt und Erfahrungen.

In Film und Literatur sind weise Menschen fast immer alte Männer mit langen, weißen Vollbärten. Ein altes Klischee oder durch Ihre Forschung bestätigt?

Die enge Verbindung zwischen dem hohen Alter und der Weisheit ist sicherlich ein Ausgangspunkt unserer Forschung gewesen. Mit dem Thema Weisheit war die Hoffnung verbunden, dass wir einen Gewinn des Alters untersuchen können. Wenn man sich die Altersforschung anguckt, dann wird sehr viel über Verluste gesprochen – in der geistigen Leistungsfähigkeit oder in der körperlichen Verfassung. Wenn ich in meiner Vorlesung die Studenten frage, was ihnen als Gewinn des Alters einfällt, kommen wenige Antworten, einige nennen die Weisheit. So haben wir angefangen, uns Weisheit aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive zu nähern. Entwicklungspsychologie nicht nur auf Kinder bezogen, sondern eben auf die gesamte Lebensspanne.

Steigt die Weisheit mit dem Alter?

Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Es gibt einige Studien, in denen Erwachsene mit unterschiedlichem Alter nach ihrer Weisheit befragt wurden. Den Studien zufolge ist es so, dass sich das weisheitsbezogene Wissen nicht „automatisch“ mit zunehmendem Alter einstellt. Es ist also nicht so, dass 70-Jährige typischerweise ein höheres weisheitsbezogenes Wissen haben als 20-Jährige.

Was genau ist weisheitsbezogenes Wissen?

Weisheit in seiner ganzen Bedeutung ist schwer fass- und daher messbar. Was wir aber mithilfe unserer sozialwissenschaftlichen Methoden erfassen können, ist weisheitsbezogenes Wissen und Urteilen in schwierigen Lebenssituationen. Dazu haben wir eine Interviewtechnik entwickelt, bei der die Leute zu uns in Labor kommen und wir ihnen komplexe, schwerwiegende Probleme vorlegen. Ein Beispiel: „Ein Freund ruft an und sagt, er möchte sich das Leben nehmen. Was würden Sie in einer solchen Situation bedenken und tun?“ Eine solche schwerwiegende Situation ist wichtig, um Weisheit zu erfassen. Um eine Matheaufgabe zu lösen, brauchen Sie keine Weisheit. Und es ist klar, dass die Frage offen ist, es gibt nicht die eine Lösung. Was uns interessiert, ist wie Leute sich so einem Problem nähern. Und deshalb bitten wir sie dann, laut darüber nachzudenken. Die Aussagen werden aufgenommen, in Schriftform gebracht und dann hinsichtlich fünf Kriterien von unabhängigen Ratern ausgewertet. Das ist ähnlich wie Aufsätze korrigieren, nur dass wir uns nicht für Ausdruck und Sprache interessieren, sondern beispielsweise dafür, wie viel Wertetoleranz ein Text zum Ausdruck bringt oder wie in dem Text mit Unsicherheit umgegangen wird, also damit, dass unser Wissen über die Vergangenheit, die Zukunft und sogar die Gegenwart immer begrenzt ist.

Welche Rolle spielen Erfahrungen?

In der Entwicklungspsychologie ist das Alter ganz wichtig. Allerdings ist das Alter zunächst etwas Physikalisches, es ist Zeitablauf und erklärt uns nichts. Also muss man immer überlegen: Was ist es eigentlich am Altern, das Veränderungen hervorruft? Und warum haben viele Menschen die Vorstellung, dass weise Personen älter sind? Was da naheliegend ist, ist die Idee, dass Ältere im Vergleich zu Jüngeren viel mehr Zeit dazu hatten, Erfahrungen zu sammeln, die dem weisheitsbezogenen Wissen zugutekommen sollten. Andererseits legen einige unserer aktuellen empirischen Studien nahe, dass sich Lebenswissen gar nicht anhäuft, sondern dass wir das Wissen, das nicht mehr aktuell ist und somit selten genutzt wird auch wieder verlieren können. Im Umkehrschluss bedeutet dies eben auch, dass junge Menschen über Bereiche, die für sie besonders relevant sind, relativ hohes weisheitsbezogenes Wissen besitzen können. Es ist somit wahrscheinlich eher so, dass es darauf ankommt, was besonders relevant ist in einer Lebensphase. Für  Studenten ist zum Beispiel Intimität ein relevantes Thema. Junge Erwachsene setzen sich aktiv mit ihren ersten Partnerschaften auseinander, um ihre eigene Rolle darin zu finden. Bei ihnen ist das Wissen über Intimität wesentlich stärker präsent als bei älteren Menschen. Das heißt also, junge Erwachsene können in bestimmten Bereichen genauso weise sein wie ältere. Bedeutsam dafür ist aber nicht Erfahrung per se. Es ist zusätzlich wichtig, ein bestimmtes intellektuelles Niveau zu haben, um die Erfahrungen zu reflektieren.

Also ist auch der Bildungsabschluss entscheidend für den Grad der Weisheit, den ein Mensch besitzt?

So nicht, es funktioniert nicht nach dem Prinzip ‚je mehr, desto mehr‘. Aber man kann sicherlich sagen, dass es ein Schwellenwertmodell ist. Zudem sprechen wir hier über statistische Zusammenhänge, aus denen ich nicht auf den Einzelnen schließen kann oder will. Allerdings ist es im Allgemeinen so, dass die Möglichkeiten sich zu entfalten mit geringer Bildung begrenzter sind. Es ist aber nicht so, dass man Professor werden muss, um hohes weisheitsbezogenes Wissen zu haben. Das meine ich mit der Schwelle, die überschritten werden muss. Wo genau diese Schwelle aber liegt, kann ich so nicht sagen, da gibt es im Detail keine Forschung.

Wem hilft weisheitsbezogenes Wissen weiter – dem, der es hat oder den nachfolgenden Generationen, an die er es weitergibt?

Das ist eine ganz wichtige Frage, die auch für mich einen empfindlichen Punkt trifft. Und zwar deshalb, weil es dort wenig wissenschaftliche Erkenntnisse gibt. Nach unserer Auffassung ist weisheitsbezogenes Wissen etwas, was der eigenen Person hilft und mindestens genauso viel den anderen. Historisch gesehen entspricht das dem weisen Ratgeber aus der Philosophie, der sein Wissen an andere Personen und auch an die Gesellschaft als Ganzes weitergibt.

Da fällt mir die Redewendung „Die Weisheit mit Löffeln essen“ ein, die meist dann ausgesprochen wird, wenn es um altkluge Menschen geht.

Es geht im Sinne von Weisheit eben nicht nur darum, dass jemand schlau denkt oder Wissen hat. Es geht auch darum dieses so zu kommunizieren, dass der Gegenüber es annehmen kann. Und ich nehme das nicht an, wenn mir jemand von oben herab etwas erzählt. Es muss im weitesten Sinne auch eine soziale Kompetenz geben.

Was ist das Ziel der aktuellen Forschung an Ihrem Institut?

Wir sind weiter daran interessiert, besser zu verstehen, wie zumindest einige Menschen im Laufe ihres Lebens weisheitsbezogenes Wissen erwerben und warum andere hierbei weniger Fortschritte machen. Was uns sicher noch länger beschäftigt ist, ob weisheitsbezogenes Wissen bereichsspezifisch sein kann, oder ob die Weisheit sich dadurch auszeichnet, dass sie generalisiert. Ein anderer Forschungsschwerpunkt ist, sich weisheitsbezogenes Wissen in einer konkreten Ratgebersituation anzugucken.

Die Autorin Katrin Clemens ist Mitglied der Lehrredaktion Campus, einem Gemeinschaftsprojekt des Studiengangs Journalistik an der Universität Leipzig und der Leipziger Volkszeitung.

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