Lebensgefährliches Hashtag #thinspiration – Gemeinsam hungern via Twitter

Vor allem in der Bahn und auf den Gehsteigen der Innenstädte wird es deutlich: Fast alle Jugendlichen besitzen ein Smartphone. Den Blick auf den kleinen Kasten gerichtet, laufen sie von Zuhause in die Schule oder zum nächsten Treffen mit ihren Freunden. Immer in Kontakt sein und ungehindert jede Informationen zu bekommen, kann das Leben bereichern. Es kann aber auch dazu führen, dass Menschen mit gefährlichen Neigungen noch viel leichter zueinander finden.

Hashtags wie #thinspiration, #thinspo, #anamia aber auch der wohl bekannteste Begriff #proana sind in den sozialen Medien seit einiger Zeit Trend. Sie sind die Erkennungszeichen für Mädchen und Jungs, die sich dem Schönheitskult um den mageren Körper verschrieben haben. Denn viele der Bilder die dort gepostet werden, würden sogar Twiggy, das erste berühmte Magermodel, dick wirken lassen. Nicht selten sind nur noch Haut und Knochen zu sehen. "Ana" ist eine Abkürzung für "Anorexia", so der wissenschaftliche Name der Magersucht, die die Krankheit wie eine gute Freundin klingen lässt.

Ihren Anfang nahm die Internet-Anorexie-Bewegung auf der Foto-Plattform Instagram. Allerdings wurde die Bilderflut von lebensgefährlich dünnen Körpern schnell so groß, dass die Firma 2012 die Hashtags #thinspiration, #thinspo, #proanorexia und #probulimia schlichtweg abschaffte. Seitdem können die Wörter zwar mit der für einen Hashtag nötigen Raute versehen werden, allerdings sind sie nicht mehr als Sammellink aktiv.

Abschaffen konnte Instagram diese Bilder damit jedoch nicht. Stattdessen entstanden neue Hashtags wie #thynspiration oder #skinny, die bislang nicht auf der roten Liste stehen.

Damit nicht genug, die betroffenen Mädchen suchten sich auch neue Möglichkeiten. Vor allem der Kurznachrichtendienst Twitter wird immer mehr für Nachrichten mit krassen Körperbildern genutzt. Der Vorteil: Die Mädchen und Jungs können nicht nur Fotos teilen, sondern auch gleich auf ihre Blogs zum Thema verweisen. Auf Seiten wie "proana-Like to be skinny" sind dann zahlreiche Ratschläge für den Essensverzicht zu finden, etwa "iss nichts, was größer ist als deine Handfläche" oder "wenn du hungrig bist, mach Sit-Ups oder box dir in den Bauch". 

Alleine in Deutschland gelten laut Zahlen des Robert-Koch-Instituts 20 Prozent aller Mädchen und Jungs zwischen 11 und 17 Jahren als esssgestört. "Vor allem in den letzten Jahren beobachten wir, dass die Betroffenen immer jünger werden", weiß auch Andreas Schnebel, Psychotherapeut bei ANAD e.V. einer Organisation die Hilfe für Menschen mit Essstörungen anbietet. "Vor 30 Jahren hätte man ein zwölfjähriges Kind mit Magersucht nicht gesehen, heute sind die meisten zwischen zwölf und 14 Jahren alt." Auch immer mehr Jungen seien betroffen. "Zwar treten Bulimie (Ess-Brech-Sucht, Anm. d. Red.) und Binge-Eating (unkontrolliertes Essverhalten mit Heißhungeranfällen) eigentlich häufiger auf als Anorexie, aber die Folgen von Magersucht sind erheblich dramatischer", weiß der Experte. So sei die Todesrate unter Magersüchtigen höher als die bei Menschen mit Depression. 

Welch immense Rolle die sozialen Medien bei der Entwicklug einer Essstörung spielen, zeigt eine Studie, die im Fachmagazin "European Eating Disorders Review" veröffentlicht wurde. Darin sahen sich Mädchen ohne problematisches Essverhalten für 90 Minuten Webseiten an, die Essstörungen wie Magersucht offensichtlich verherrlichten. Einige der Mädchen gaben danach zu, dass sie etwa drei Wochen lang starke emotionale Reaktionen auf den Inhalt hatten. Entsprechend vorstellbar ist, wie Mädchen und Jungs mit einer entsprechenden Vorgeschichte auf solche Inhalte auf Twitter oder Instagram reagieren.

"Das Problem ist, dass diese Pro-Ana-Seiten und -Bilder im Netz das Thema nicht nur verherrlichen, sondern sie produzieren auch einen ähnlichen Druck wie eine Sekte", sagt Schnebel. "Die Jugendlichen müssen auf bestimmte Weise aussehen, um mithalten zu können, und bekommen dafür auch gleich die richtigen Regeln mitgeliefert."

Gerade junge Menschen, die sich in einer Orientierungsphase befinden, und entsprechend auch viele Unsicherheiten haben, sind für solche Bewegungen anfällig. "Jeder kennt das, dass als Jugendlicher alles, was so einen Clubcharackter hat, Halt zu geben scheint. Im positiven Sinn sind das etwa Sportvereine, im negativen Fall machen sie bei Bewegungen wie Pro-Ana mit", erklärt der Psychologe.

Die größte Schwierigkeit an den sozialen Medien ist, dass sie von Eltern nicht mehr zu kontrollieren sind. Kaum ein Jugendlicher kommt ohne Handy aus, und der Computer ist in der Schule und Zuhause längst Bestandteil des Alltags. Aber was noch viel schlimmer ist: "Die Betroffenen leben meist in einer ganz eigenen Welt. Sie haben ja ein völlig verändertes Schönheitsbild und igeln sich ein. Denn ständiges Hungern kostet immense Disziplin", so Schnebel.

Die Grenze zu dieser Welt zu durchbrechen ist also die eigentliche Herausforderung für Eltern oder andere Bezugspersonen von betroffenen Jugendlichen. "Wer helfen will, muss sich darauf einstellen, dass es mehrere Versuche brauchen wird", so der Psychologe. Am besten helfe, Verständnis zu zeigen und nachzufragen, ob es den Betroffenen vielleicht nicht gut gehe. Anlaufstellen, die professionelle Hilfe anbieten, gibt es zahlreich. Doch die meisten Essgestörten brauchen sehr lang, bis sie sich Unterstützung suchen.

Den Hauptgrund dafür sieht Schnebel in dem gesellschaftlichen Druck, der besagt: wer schlank ist, ist schön und erfolgreich. "Was jedoch kaum einer weiß: Marilyn Monroe, die bis heute als Schönheitsikone gilt, hatte einen BMI von fast 26. Damit hätte sie bei Heidi Klum heuzutage nicht im entferntesten eine Chance."

Organisationen, die Hilfe bei Essstörungen bieten, finden Sie im Infokasten.



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