Konsumwelt als Ersatzreligion

Wie ein Gottesdienst: Brasilianische Fussballfans im Maracanã in Rio. Foto: Leo Correa (AP)

Wie ein Gottesdienst: Brasilianische Fussballfans im Maracanã in Rio. Foto: Leo Correa (AP)

Religiöse oder spirituelle Bedürfnisse sind tief in unserem Bewusstsein verankert. Sie gehören zu den ursprünglichen Archetypen oder Grundstrukturen menschlicher Vorstellungs- und Handlungsmuster. Carl Gustav Jung, der Esoteriker unter den Psychologen, führte den Begriff in der Psychologie ein und sprach vom kollektiven Unbewussten.

Es ist tatsächlich auffallend, dass praktisch alle Völker, Stämme und Kulturen ähnliche religiöse Archetypen entwickelten, obwohl sie früher keine Verbindung untereinander hatten, sich also geistig nicht inspirieren konnten. Das Bedürfnis nach etwas Höherem, Mächtigem, Unvergänglichem ist eine Konstante der Menschheitsgeschichte.

Aus psychologischer Sicht führten vermutlich das Bewusstsein von der Endlichkeit allen Lebens und die Angst vor Krankheiten, Unfall und Tod zu den religiösen Archetypen. Gläubige neigen hingegen dazu, die Ursache des Religiösen in der göttlichen Kraft zu suchen, die die Natur belebt und unser Bewusstsein prägt.

Vielleicht erleben wir im aktuellen Jahrhundert den Beginn eines beispiellosen Paradigmenwechsels, denn die religiösen Grundbedürfnisse bröckeln zumindest in der westlichen Welt erstaunlich schnell. Spirituelle Fragen haben bei den jungen Generationen keinen grossen Stellenwert mehr. Auch die Statistiken der Kirchenaustritte verdeutlichen den Wandel und den Zerfall des Archetypus.

Die Bedürfnisse nach Ritualen werden indes nicht verschwinden. Die aktuelle Entwicklung zeigt aber, dass eine Verschiebung hin zu weltlichen Bräuchen stattfindet. Ausserdem löst das Materielle das Spirituelle ab. Der Wohlstand wendet die Aufmerksamkeit vom Jenseits aufs Diesseits. In der Postmoderne brauchen die Menschen Gott nicht mehr zwingend, um die Hoffnung auf Verwirklichung nähren zu können. Gier und Abzockerei sind die neuen Archetypen, der Konsum ist zur Ersatzreligion geworden.

Dies zeigt sich bei der wachsenden Ritualisierung der säkularen Welt. Der Fussball zeigt es eindrücklich. Die Fanclubs bitten jedes Wochenende zum Hochamt. Vom Outfit über den Bierkonsum bis zum Fangesang und dem Animateur im Stadium sind alle Elemente enthalten, die auch einen Gottesdienst ausmachen. Kein Zufall also, dass «Fussballgott» zum stehenden Begriff geworden ist.

Oder das Shoppen. Die Geschäfte bauen eine Erlebniswelt auf, in der Einkaufen zum Ereignis und Ritual wird. Ersatzreligiösen Charakter hat auch das Essen und Kochen angenommen. Kochsendungen gibt es inzwischen auf allen Kanälen, Koch-Castings treiben das Ritual auf die Spitze. Es scheint, dass der Konsum und andere weltliche Rituale die grössten Feinde der Götter sind.

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