Einer meiner Kollegen aus der kognitiven Psychologie nannte
das menschliche Gehirn eine Entscheidungsmaschine. Und tatsächlich sind wir
ständig mit Entscheidungen von kurz-, mittel- oder langfristiger Tragweite
beschäftigt. Soll man am Morgen ein Gipfeli oder ein Magerjoghurt essen? Lohnt
es sich, ein Halbtax-Abonnement zu kaufen? Soll man sich in den neu angebotenen
MAS-Studiengang einschreiben? Das ist nur ein Bruchteil der Wahlmöglichkeiten,
die sich im Laufe eines Tages ergeben. Menschen können sich auch bei
kurzfristigen Entscheidungen die langfristigen Konsequenzen ihres Verhaltens vergegenwärtigen.
Zu wissen, was das Gipfeli mit unserer Figur macht oder dass CO2-Ausstoss nicht
klimaneutral ist, kann unser Verhalten steuern. Wir können kurzfristig
belohnendes Verhalten unterdrücken, um langfristig negative Konsequenzen zu
vermeiden, oder um uns langfristige Belohnungen zu verschaffen. Statt abends ins Kino zu gehen, lernen wir für
Prüfungen oder nehmen an einer Fortbildung teil, weil wir uns davon langfristig
berufliche Vorteile versprechen.
Nach allem, was wir wissen, ist langfristige Planung und die
damit verbundene Fähigkeit zum Belohnungsaufschub weitgehend dem Menschen
vorbehalten. Auch kann als gesichert gelten, dass das menschliche Frontalhirn an
der Steuerung dieser Funktionen entscheidend beteiligt ist. Der Mensch ist zum
Entscheiden und Planen geboren. Aber das heisst noch lange nicht, dass Entscheidungen
immer optimal oder gar rational ablaufen. Ungereimtheiten beim Entscheiden ist
eines der wichtigsten Forschungsgebiete in den Humanwissenschaften. Der Psychologe
Daniel Kahneman erhielt für seine bahnbrechende Forschung den Nobelpreis. Es
kommt nicht selten vor, dass Menschen viel Zeit darauf verwenden, ein Geschäft zu
suchen, in dem der Liter Milch ein paar Rappen weniger kostet, aber den Vertrag
für ein Wohnungsdarlehen beinahe ungeprüft unterschreiben.
Allerdings ist irrationales Entscheidungsherhalten nicht nur
eine individuelle Schwäche, sondern ein Problem unserer Zeit. In fast jeder
Hinsicht haben wir es heute leichter als unsere Vorfahren. Nur was
Entscheidungen angeht, ist alles komplizierter geworden, und das liegt vor
allem an den ständig steigenden Wahlmöglichkeiten. Seit mehr als 8000 Jahren
trinken Menschen die Milch domestizierter Rinder. Neu aber ist, dass man im
Milchregal des Supermarktes auf etwa zwanzig verschieden aufgemachte Packungen
stösst. Selbst wenn man sich für frische Vollmilch entschieden hat, kann man zwischen
fünf Sorten wählen. Würde man die Sache systematisch angehen, bräuchte man für
die Auswahl einer Packung Milch mehr Zeit als unsere Vorfahren zum Melken einer
Kuh. Für die meisten anderen Artikel des täglichen Bedarfs ist die Anzahl der
angebotenen Produktsorten noch unübersichtlicher.
Dass eine grosse Zahl an Wahlmöglichkeiten Menschen eher
hemmt als beflügelt, wurde mehrfach nachgewiesen. Sie kann sogar unglücklich
machen, wenn man im Nachhinein an die vielen verpassten Chancen denkt. Die
Komplexität des Alltags können wir nur bewältigen, wenn wir Entscheidungen
automatisieren, indem wir immer die gleiche Sorte Milch kaufen und die anderen
Angebote gar nicht erst zur Kenntnis nehmen. Vielleicht geht uns das eine oder
andere Sonderangebot durch die Lappen, aber dafür konnten wir uns auf die uns
wirklich wichtigen Dinge konzentrieren.
Kompliziert wird es, wenn Entscheidungen grösserer Tragweite
anstehen, wie die Berufs- und Studienfachwahl. Spätestens seit der Bologna-Reform
hat niemand mehr den Überblick über die Bachelor, Master, MAS und MBA-Angebote
von Universitäten, die man zu unterschiedlichen Zeitpunkten seines Lebens und
parallel zu anderen Aktivitäten wahrnehmen kann. Die Angebote sind verlockend,
und am Tage der Einschreibung geht man noch keine Verpflichtung ein. Hier
besteht die Gefahr einer halbherzigen Entscheidung: Man hält sich eine Option
offen, ohne jedoch die Sache mit dem nötigen Engagement zu betreiben, und führt
dabei ein zunächst nicht allzu unbequemes Leben als «Perhappy» (eine
Wortschöpfung, in die englischen Vokabeln «perhaps» und «happy» eingehen).
Weniger glücklich sind allerdings die Dozierenden, wenn sie
mit Studierenden konfrontiert sind, welche mehr an administrativen als an
inhaltlichen Aspekten interessiert sind. Wenn diese erkennen, dass ein
Zusatzstudium eigentlich nicht in ihr Leben passt, ersuchen sie um Sonderregelungen,
wie die Verlängerungen der ohnehin meist grosszügig bemessenen Studienzeiten
oder die Abweichung vom Studienplan, in dem die Lehrveranstaltungen aufeinander
abgestimmt sind. Als ich vor einigen Jahren die Verantwortung für die
didaktische Ausbildung an der ETH übernahm, war ich mit einer solchen Situation
konfrontiert. Sich die Möglichkeit offen zu halten, als Gymnasiallehrperson
seinen Lebensunterhalt zu verdienen, war früher für viele Studierende Grund
genug, mehr oder weniger engagiert mit der didaktischen Ausbildung zu beginnen.
Als vor einigen Jahren die Schweizer Erziehungsdirektorenkonferenz die
Anforderungen an die Ausbildung von Gymnasiallehrern neu regelte und
Studierende stärker in die Pflicht nahm, wurde dies von vielen Studierenden
zunächst ignoriert. Nicht wenige investierten halbherzig Zeit in die
Ausbildung, bevor sie sie abbrachen. Die Perhappys verloren wertvolle
Lebenszeit.
Inzwischen haben die allermeisten Studierenden ein
realistisches Bild vom Aufwand des Studiengangs, was sich im Rückgang der
Studienabbrecher widerspiegelt. Im Supermarkt wie an der Universität gilt: Nur
durch klare Entscheidungen, in denen wir uns auch die Kosten einer Option
vergegenwärtigen, vermeiden wir es, uns im Dickicht der Wahlmöglichkeiten zu
verirren.
Zur Autorin
Dass
Elsbeth Stern Forscherin respektive Professorin werden
wollte, wusste sie schon als 15-jährige. Dieses Ziel hat sie denn
auch erreicht: Die gebürtige Deutsche ist seit 2006 Ordentliche Professorin für
Lern- und Lehrforschung an der ETH Zürich. Sie hat 1977 ihr Abitur in
Schwalmstadt (Hessen) absolviert. In Marburg und Hamburg studierte respektive
doktorierte sie in Psychologie. Nach ihrer 1994 abgeschlossenen Habilitation
arbeitete sie als Professorin an der Universität Leipzig und am
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Die Lehr- und
Lernforschung als seriöses Wissenschaftsgebiet zu etablieren, ist ihr seit
langem ein zentrales Anliegen. Eine grundsätzliche Frage zum Thema Lernen ist
für sie eine der faszinierendsten: Wie schafft es das menschliche Gehirn, das
mindestens 40'000 Jahre alt ist, Dinge zu lernen, die erst seit wenigen
Jahrzehnten zum Kulturgut des Menschen gehören, wie etwa das Bedienen eines
Computers?