Kita oder erste Klasse?








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Eltern sogenannter Kann-Kinder sollten ihre Sprösslinge genau beobachten

Kiel/Niederkassel (dapd). Viele Kindergartenkinder können schon bis Hundert zählen, kurze Wörter lesen und Pfannkuchen backen. Für Eltern von sogenannten Kann-Kindern, die noch nicht schulpflichtig sind, stellt sich daher häufig die Frage, ob ihr Nachwuchs nicht schon ein Jahr vor dem gesetzlich festgelegten Termin eingeschult werden sollte.

"Dass ein Kind schon lesen kann, sagt allerdings nichts darüber aus, ob es schon schulfähig ist", betont Armin Krenz vom Institut für angewandte Psychologie und Pädagogik in Kiel. Neben motorischen und kognitiven Fähigkeiten brauche ein Schulkind auch ein gewisses Repertoire an emotional-sozialen Kompetenzen, die für den langfristigen schulischen Erfolg von wesentlich größerer Bedeutung seien, sagt der Autor des Ratgebers "Ist mein Kind schulfähig?".

"Vielen Eltern ist nicht klar, welche Herausforderung der Wechsel vom Kindergarten in die Schule für ein Kind mit sich bringt - das ist eine völlig neue Welt", weiß Detlef Träbert, Leiter des Schubs-Schulberatungsservice in Niederkassel. In der Schule müsse das Kind sich in eine neue Gruppe einfügen, müsse zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Leistung erbringen, habe weniger Freiheiten, weniger Pausen.

Das erste Jahr präge die gesamte Schullaufbahn, betonen die Experten. Es könne daher gravierende Auswirkungen haben, wenn ein Erstklässler viele negative Erfahrungen mache. "Gerät ein Kind unter Stress, etwa durch eine lange Busfahrt zur Schule oder weil es von seinen Mitschülern gehänselt wird, schränkt das seine Wahrnehmungsfähigkeit ein", sagt Armin Krenz. Das führe dazu, dass es sein Können nicht mehr abrufen kann, wenn es nötig ist. "Vor allem zwischen der fünften und siebten Klasse entwickeln viele früh eingeschulte Kinder Probleme und müssen ein Schuljahr wiederholen", sagt der Experte.

Krenz empfiehlt Eltern, sowohl die kognitiven und die motorischen Fähigkeiten als auch die sozialen und emotionalen Verhaltensweisen ihres Kindes vor einer Früheinschulung genau zu prüfen. Man sollte im Alltag beispielsweise beobachten, ob das Kind schnell ausrastet, ob es Konflikte mit Freunden gut klären kann und ob es alleine spielen kann. "Wichtig ist auch, dass das Kind angstfrei auf Neues reagiert, dass es Selbstvertrauen hat und dass es mit Enttäuschungen umgehen kann", sagt Krenz.

Um sich ein umfassendes Bild zu machen, sollten Eltern außerdem ausführlich mit den Erziehern des Kindes sprechen, betont Detlef Träbert. "An manchen Orten besucht ein Kontaktlehrer den Kindergarten, der die Vorschüler schon mal auf ihre Entwicklung hin beobachtet", sagt der Experte. Diesen könne man bitten, auch das eigene Kind zu beurteilen.

Eine entscheidende Rolle spielten auch die Bedingungen, die die aufnehmende Schule dem Kind bietet. "Nicht nur das Kind muss schulfähig sein, sondern die Schule muss auch mit jüngeren Kindern umgehen können", sagt Träbert. Wenn die Schule nicht auf Kinder eingehe, die in manchen Dingen noch etwas hinterher sind, habe ein Kann-Kind es besonders schwer.

Allein am Alter sollten Eltern sich hingegen nicht orientieren. "Die Entwicklungsunterschiede betragen bei Sechsjährigen plus oder minus eineinhalb Jahre", sagt Träbert. Ein Sechsjähriger könne von seiner Entwicklung her also ebenso gut auf dem Stand eines Siebeneinhalbjährigen wie auf dem eines Viereinhalbjährigen sein. "Allerdings gibt es keine wissenschaftliche Untersuchung, die für eine Einschulung unter sechs Jahren spricht", sagt Armin Krenz. Nur in sehr seltenen Fällen seien Kinder unter Sechs sozial und emotional ausgereift genug, um die Schule zu besuchen. "Im Pisa-Sieger Finnland wird sogar erst mit Sieben eingeschult", gibt Krenz zu bedenken.

Ob nicht schulpflichtige Kinder aufgenommen würden, entscheidet die Grundschule meist mit Hilfe eines Tests. "Bei solchen Einschulungsuntersuchungen wird allerdings immer noch hauptsächlich die kognitive Seite getestet", bemängelt Armin Krenz. Sei man unsicher, sollte man zusätzlich von einem Psychologen oder Erziehungsberater überprüfen lassen, ob ein Kind emotional und sozial soweit ist.

Wichtig sei, dass Eltern objektiv an die Fragestellung herangehen. "Man sollte nicht das Ziel vor Augen haben, dass das Kind vorzeitig eingeschult wird, sondern offen für jegliches Ergebnis sein", sagt Krenz. Auch Detlef Träbert rät Eltern, ihr Kind auf keinen Fall unter Druck zu setzen, sich noch mehr anzustrengen, damit es eingeschult werden kann - "Das kann die Entwicklung des Kindes eher beeinträchtigen als sie zu fördern."

Merke man deutlich, dass ein Kind noch nicht schulfähig ist, sollte man es in jedem Fall noch ein Jahr im Kindergarten lassen, betont Armin Krenz. Eltern müssten sich hier ihrer Verantwortung für eine gute schulische Entwicklung des Kindes unbedingt bewusst sein. "Auch wenn vielleicht gute Freunde von Sohn oder Tochter früher eingeschult werden und das Kind traurig über diesen Verlust ist, sollte man sich davon nicht beirren lassen", betont Detlef Träbert. Denn bei Leistungsproblemen in der Schule könnten auch die Freunde nicht helfen. Und ein zusätzliches Kindergartenjahr schade Kann-Kindern nicht. "In dieser Zeit kann ein Kind beispielsweise seine Frustrationstoleranz und Stressresistenz noch ausbilden und seine Persönlichkeit entwickeln", sagt der Pädagoge.

dapd

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