Keine Krokodilstränen

Wien.

Verlassener Bub: Thomas Doret als Cyril Catoul.© dapd
Verlassener Bub: Thomas Doret als Cyril Catoul.© dapd

Mit ihrem neuen Film "Der Junge mit dem Fahrrad" erzählen die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne ein humanistisches Märchen über Hoffnung und Vertrauen. Auf den Filmfestspielen in Cannes erhielten sie dafür den großen Preis der Jury.

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"Wiener Zeitung": Sie behandeln in Ihren Filmen immer wieder delikate Themen, werden dabei aber nie zynisch - wie machen Sie das?

Jean-Pierre Dardenne: Wir halten nichts von Sentimentalismus oder gar Krokodilstränen. Mit diesem Film zum Beispiel erzählen wir etwas, das vielleicht zu Tränen rühren mag, aber in den Tränen liegt noch etwas. Vielleicht eine Moral, vielleicht eine Anregung. Bei einer Geschichte über einen verlassenen kleinen Jungen, dessen sich eine liebevolle Frau annimmt, wäre es schwierig, keine Emotionen zu adressieren.

Ihre Schauspieler erzählen immer wieder, dass Sie als Regisseure niemals die Psychologie der Figuren erklären oder diskutieren. Warum ist das so?

Luc Dardenne: Wir hätten auch in diesem Film die weibliche Hauptfigur mit einer psychologischen Vorgeschichte ausstatten können à la sie hatte eine schwere Kindheit oder hat selbst einmal ein Kind verloren und ist deswegen so geneigt, dem Buben zu helfen. Aber das interessierte uns nicht. Wir wollten einfach zeigen, dass Samantha sich dazu entschließt, weil sie eine Verantwortung fühlt, als sie ihm begegnet und er sie um Hilfe bittet. Es ist wahr, dass wir nie über Absichten sprechen oder darüber, was im Kopf eine Figur vorgehen mag. Wir versuchen, das visuell erlebbar zu machen und über die Art der Bewegungen der Figuren, ihrer Beziehungen untereinander auszudrücken. Auch am Set besprechen wir keinerlei Motivation der Charaktere. Wir sagen nicht, dass dies die richtige Methodeist,aber für uns funktioniert sie.

Obwohl Sie nie explizit in einem sozialen Auftrag zu agieren scheinen, ist das soziale Umfeld der Figuren immer sehr evident und wichtig. In diesem Film spielt die Definition von Familie eine große Rolle.

Die Regiebrüder: Jean-Pierre und Luc Dardenne.© REUTERS
Die Regiebrüder: Jean-Pierre und Luc Dardenne.© REUTERS

Jean-Pierre Dardenne: Wir schlagen nie soziale oder wirtschaftliche Gründe für das Verhalten einer Figur vor, das ist richtig. Im Gegenteil, wir wollen das vermeiden. Für diesen Film mussten wir die Figur der Samantha daher auch in der Mittelklasse ansiedeln, damit sie keine finanziellen oder sozialen Gründe hätte, den Jungen nicht bei sich aufnehmen zu können. Dasselbe gilt für den Vater. Ja, er hat Geldprobleme, aber dennoch hätte er Cyril bei sich aufnehmen können. Wir wollten bewusst ökonomischen oder sozialen Druck ausklammern, der das Verhalten der Figuren bestimmen hätte können. In anderen Filmen, die wir gemacht haben, hat dieser Druck eine größere Rolle gespielt und die Figuren stärker beeinflusst. Dennoch ist es so, dass die wirtschaftlichen und sozialen Kräfte die Tragik erzeugen, gegen die die Menschen in der heutigen Gesellschaft kämpfen.

Dieser Film beinhaltet angesichts Ihrer Filmografie viel Musik.

Luc Dardenne: Den für unsere Begriffe starken Einsatz von Musik - also an drei Stellen - hatten wir hier schon früh im Sinn. Aber wir hatten davon nichts ins Drehbuch geschrieben, denn wir wollten nicht, dass sich diverse Produzenten,Förderstellenoderdie SchauspielerbeimLesendesScripts darüber Gedanken machen. Wir verwenden die Musik hier auch anders, als es sonst üblich ist. Also nicht, um Szenen zu dramatisieren, sondern als eine Präsenz, die über den Charakteren steht, wie etwas Liebendes, Umsorgendes.

Eine andere Neuheit ist, dass Sie hier erstmals mit einer bereits sehr bekannten Schauspielerin arbeiten.

Jean-Pierre Dardenne: Ja, wir wollten diese Herausforderung einmal annehmen. Viele Leute warnten uns, dass es für zwei heterosexuelle Männer unmöglich sein würde, mit einer schönen und bekannten Schauspielerin am Set zu sein und sie auch noch gleichzeitig zu dirigieren, ohne dass sie sich streiten würden. Aber wir haben es geschafft.

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