Kassen schikanieren Psychotherapie-Patienten

Wer sich ein Bein bricht, geht zum Arzt und wird sofort behandelt. Wer unter einer Depression leidet, geht zum Psychotherapeuten - und wartet. In manchen Regionen dauert es mehr als drei Monate bis ein Patient einen ambulanten Behandlungsplatz erhält. Bis dahin haben sich manche Leiden schon verschlimmert oder sind chronisch geworden.

Dabei gibt es eine Möglichkeit das ewige Warten zu umgehen: die sogenannte Kostenerstattung. Denn den Mangel an Psychotherapeuten gibt es genau genommen gar nicht. Vielmehr mangelt es an Kassenlizenzen: Jedes Jahr beenden knapp 1500 Psychologen die staatliche Therapeutenausbildung erfolgreich. Doch nur wenige von ihnen erhalten die Zulassung und können ihre Leistungen mit den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen. Die Folge: Sie eröffnen eine Privatpraxis.

Kostenerstattung boomt - Kassen schikanieren

Gesetzlich Versicherte haben das Recht zu solch einem Privattherapeuten zu gehen, wenn sie sonst mehrere Wochen auf eine Behandlung bei einem Therapeuten mit Kassenlizenz warten müssten. Sie können bei ihrer Krankenkasse einen Antrag stellen, dass diese die Kosten für die Privatbehandlung übernimmt.

Wie jetzt die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) berichtet, machen immer mehr Patienten von dieser Möglichkeit Gebrauch: "Von 2003 bis 2012 haben sich die Ausgaben der Krankenkassen für Kostenerstattung für Psychotherapie verfünffacht, von knapp acht Millionen Euro auf über 41 Millionen Euro", heißt es in einer Pressemitteilung der BPtK. Allein von 2011 zu 2012 sind die Kosten demnach um 25 Prozent gestiegen.

Eine Entwicklung, die offenbar manchen Beteiligten ein Dorn im Auge ist: "Seit einiger Zeit berichten Versicherte der BPtK, dass ihre Kassen Kostenerstattungsanträge einfach liegen lassen", sagt Rainer Richter. Auf diese Weise, so der Präsident der Therapeutenkammer, würden die Krankenkassen die Behandlung verzögern.

Das Bundesgesundheitsministerium schiebt dem jetzt einen Riegel vor: Die Anträge gelten als genehmigt, wenn sie nicht innerhalb von fünf Wochen von der Krankenkasse entschieden werden. So lautet nun die Antwort des Ministeriums auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Maria Klein-Schmeink von Bündnis 90/Die Grünen.

Antrag stellen, Absagen sammeln, Therapiebedarf nachweisen

Für Betroffene, die seit Wochen auf eine Entscheidung ihrer Kasse warten, dürfte das eine wertvolle Information sein. Gleichwohl müssen sie auch weiterhin selbst aktiv werden: Für einen Antrag auf Kostenerstattung müssen sie nachweisen, dass kein Kassentherapeut sie zeitnah behandeln kann und sich ihr psychisches Problem nicht aufschieben lässt. "Nicht alle haben jedoch die Kraft dazu", sagt BPtK-Präsident Richter.

Zwar gibt es Kassen, die eine Privatbehandlung recht schnell genehmigen. Das gilt aber nicht für alle. Experten raten, sich in jedem Fall vorher bei der eigenen Krankenkasse zu informieren, welche Bedingungen der Antrag erfüllen muss.

Wer auf die Psychotherapeutensuche geht, sollte auf jeden Fall Zettel und Stift bereit halten, um sich zu notieren, welcher Therapeut wie lange Wartezeiten hat. Das empfiehlt die Bundespsychotherapeutenkammer in ihrem Ratgeber "Kostenerstattung".

Geht es nach Patientenvertretern, sollten drei bis fünf Absagen von Kassentherapeuten genügen. Manche Kassen fordern jedoch wesentlich mehr. Experten raten den Patienten, sich sowohl die Absagen als auch die Wartezeiten der Psychotherapeuten schriftlich oder per E-Mail schicken zu lassen. Zudem empfehlen sie, sich die Bescheinigung für die Dringlichkeit der Therapie von einem Psychiater oder Neurologen einzuholen und nicht vom Hausarzt.

Dran bleiben lohnt sich

Doch selbst wer die Energie für das aufwendige Antragsverfahren aufbringt und alle Hürden gemeistert hat, muss damit rechnen, dass seine Kasse den Antrag komplett ablehnt: "Fast 80 Prozent der ersten Anfragen werden abgewiesen", berichtet die Psychotherapeutin Jutta Eva Arnold.

Arnold arbeitet in einer Privatpraxis, viele ihrer Patienten sind gesetzlich krankenversichert und sind über die Kostenerstattung zu ihr gekommen. An Fallstricken seitens der Kassen hat Arnold schon einiges miterlebt. Manche Kassen etwa genehmigen nur die probatorischen Sitzungen, in denen Patient und Therapeut prüfen, ob sie miteinander arbeiten können. Die Hauptbehandlung lehnen sie dann ab, mit der Begründung: Der Patient hätte während der Probatorik weiter nach einem Kassentherapeuten suchen können.

Auf die Kostenerstattungs-Problematik angesprochen, reagieren die Krankenkassen mit deutlichen Worten: "Grundsätzlich haben wir in Deutschland nicht zu wenig Psychotherapeuten", sagt Ann Marini, stellvertretende Pressesprecherin vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV). Aus den gestiegenen Ausgaben für Kostenerstattung ein bundesweites Versorgungsproblem abzuleiten, funktioniere nicht.

Die Unterversorgung sei ein Märchen, vielmehr verursachten die Therapeuten selbst die Wartezeiten. In einer Stellungnahme an SPIEGEL ONLINE heißt es: Therapeuten, die eine volle Stelle bei der Zulassung beantragt haben, sollten "ihre Praxiszeiten auch dementsprechend ausrichten und nicht nur halbtags arbeiten". Wer weniger arbeiten wolle, um Beruf und Familie besser in Einklang zu bringen, solle das gerne tun. "Nur darf man dann auch keine volle Stelle beanspruchen und damit die eigene Work-Life-Balance zu Lasten der Patientenversorgung gestalten", so Marini.

Der BPtK zufolge arbeiten niedergelassene Psychotherapeuten durchschnittlich jedoch zwischen 36 und 42 Stunden pro Woche. Davon verbringen sie 25 bis 31 Stunden mit ihren Patienten. Dokumentationen der Sitzungen, Abrechnungen und Anträge kommen dazu.

Die Psychotherapeutin Jutta Eva Arnold rät ihren Patienten, in Sachen Kostenerstattung zäh zu bleiben - und Widerspruch einzulegen, falls der Antrag von der Kasse abgelehnt wird. "Nur jeder Zehnte meiner Patienten geht diesen Weg, viele sind dann entmutigt", sagt Arnold. Dabei führe gerade der Einspruch oft zum Erfolg; die meisten Krankenkassen würden die Behandlung dann zahlen. Zwar häufig zunächst weniger Stunden, als der Patient beantragt hatte. "Doch hat die Behandlung einmal begonnen, ist es meistens kein Problem, sie zu verlängern."

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