KAPITALISTIK & MEHR


Unterm in Geologie, Medizin und Psychologie geläufigen Titel „Explorationen“ sind 28 meist kürzere Texte aus etwa 30 Jahren aus den Zeitungen und Zeitschriften „junge Welt“, „konkret“, „Lunapark21“, „Marxistische Blätter“ und „unsere zeit“ in vier thematisch bezogenen Kapiteln wiedergedruckt: in Politik 10, in Geschichte 5, in Kapitalistik 8 und in Lebensgeschichten 5.

Der 1939 geborene Autor war im hessischen Marburg/Lahn an der Universität etwa 30 Jahre lang als Professor für Politikwissenschaft beamteter Hochschuldozent und dort auch Stadtverordneter der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). 2004 wurde er entpflichtet und lebt als Staatspensionist in Marburg an der Lahn. Sein Rezeptionsbogen spannt von Kritik linksdraußen à la „Marxismus light“ als „Geschichtsdidaktik zur Unterweisung von Parteigenossen“ (Karl-Heinz Schubert)[1] bis zur „Lobrede“ linksdrinnen à la Dietmar Dath auf den „Genossen Aufmerksam“.[2]

Wie auch immer – Georg Fülberth ist ein engagierter und belesener, lesbar und poitenreich schreibender marxistischer Gesellschaftswissenschaftler, der systematisch-kritisch Themenfelder erschließen und darstellen kann, sich dabei historisch vergewissert, manchmal blitzgescheit, auch bissig formuliert. Und gelegentlich auch problematisch urteilt[3]. Im Buch in seiner überengagierten Bewertung seines akademischen Lehrers und Mentors Wolfgang Abendroth (1906-1985)[4] als „revolutionärer Kommunist“ (wobei im Zusammenhang seines zweiten Abendroth-Porträts ein kluger Satz gelassen fällt: „Die Organisationwelt der Weimarer Republik … war untergegangen. Das Proletariat bildete sich aus einer ´Klasse für sich´ zur ´Klasse an sich´ zurück.“) Oder in seiner unterengagierten Kritik der altbundesdeutschen Berufsverbotepraxis[5] und ihrer multidestruktiven gesellschaftlichen und personalen Folgen („Staatliche Feindbildproduktion“). Auch empfinde ich manche Texte, vor allem neuere aus der Zeitschrift „Lunapark21“, als zu schlagwortig.

Das theoretisch gewichtigste Kapitel ist „Kapitalistik“[6] als neue akademisch-generalistische Disziplin: Fülberths historisch gesättigte kritische Analysen des Kapitalismus, seiner Kernstrukturen und seiner wesentlichen Funktionen wirkt auch als praktisch angewandter Marxismus: etwa in der Erinnerung an Rosa Luxemburgs Lehrbuch „Die Akkumulation des Kapitals“ (1913) mit der bis heute zutreffenden Überakkumulationsthese.

Kenntnisreich ist die kurze Theo-Sarrazin-Kritik („Mob und Elite“) im Politik-Kapitel sowie die Kritik der „Burgfrieden“- und Arbeitsgemeinschafts-Politik der alten deutschen Sozialdemokratie (SPD) von 1914 im Geschichte-Kapitel. Und so klug systematisiert wie sensibel porträtiert ist der Schlußtext im letzten Lebensgeschichten-Kapitel: ein Vortrag über den Frankfurter jüdischen Kommunisten und militanten Antifaschisten Emil Carlebach (1914-2001)[7] und dessen aus politikgeschichtlichen Phasen entwickelte „vier Leben“[8] - auch als für theoretisch weniger Interessierte als Lesetext und Zugang zum Buch überzeugend.

[1] http://www.trend.infopartisan.net/trd1213/t041213.html
[2] junge Welt, 25.9.2014: 14
[3] Die methodisch so grundfalsche wie professoral bornierte (in „Die Zeit“ 22.7.1999 unterm Titel „Die Vertreter des Historischen Materialismus an den deutschen Universitäten gehen in Rente. Eine Bilanz“ gedruckte) Meinung des Autors sehe ich ebenso als ideologischen Ausreißer wie dessen wissenschaftsmethodisch so wurschtige wie begriffsarme Einlassung zu „Ideologieproduzenten“, „Selbstvertretung der Bourgeoisie“ und „linke Teile der Intelligenz“ (Georg Fülberth, Die Erfindung der Mittelschicht; Marxistische Blätter, 51 [2013] 4: 52-57) – handelt es sich doch lediglich um neue ideologische Klimmzüge tertiärelitischer Politnasen im Troß gegenwärtiger bürgerlicher Herrschaft(en)
[4] Richard Albrecht „...denkt immer an den ´mittleren Funktionär´... Wolfgang Abendroth (2. Mai 1906 bis 15. September 1985) http://www.hausarbeiten.de/faecher/hausarbeit/pox/25995.html; gekürzte Druckfassung: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 40 (2004) 4: 465-487
[5] Richard Albrecht, POLITIK 1972. SEIT VIERZIG JAHREN: LINKS BLINKEN - RECHTS ÜBERHOLEN. Erinnerung an die Willy-Willy-Politik der Berufsverbote 1972 http://duckhome.de/tb/archives/9761-BERUFSVERBOTEPOLITIK-1972.html; auch http://www.trend.infopartisan.net/trd0112/570112.html [und] http://www.saarbreaker.com/2011/01/links-blinken-rechts-berholen/
[6] https://www.uni-marburg.de/aktuelles/unijournal/jan2004/Kapitalistik
[7] Emil Carlebach,. Am Anfang stand ein Doppelmord. Kommunist in Deutschland. Bis 1937. Köln: Röderberg/Pahl-Rugenstein, 1988; ders., Tote auf Urlaub. Kommunist in Deutschland. Dachau und Buchenwalt 1937 bis 1945. Bonn: Pahl-Rugenstein, 1995
[8] Netzfassung des Vortrags http://www.kommunisten.de/attachments/5031_fuelberth_emil_carlebach.pdf: s. auch meine Hinweise in diesem Blog am 30. Juli 2014 http://duckhome.de/tb/archives/13252-SOMMERLESE-2014.html

Georg Fülberth, Explorationen. Politische Publizistik aus drei Jahrzehnten. Köln: Papyrossa, 2014/15, 207 p. [= Neue Kleine Bibliothek 205], ISBN 978-3-89438-575-0; € 13.90 (D), € 14.40 (A)

Richard Albrecht (*1945) studierte in Kiel und Mannheim als Hochbegabtenstipendiat Sozialwissenschaften von A-Z (Anglistik, Philosophie, Politikwissenschaft, Sozialpsychologie, Soziologie, Statistik, Zeitgeschichte), war im SDS aktiv und 1968 politischer Referent im AStA der Universität Mannheim (WH). Diplom 1970/71, Voluntariat 1972/73, Promotion 1975/76, Habilitation 1988/89. 1972/89 Lehrer, Dozent, Referent und in der empirischen Sozialforschung. Lebt und arbeitet seit seiner Beurlaubung als Privatdozent 1989 als unabhängiger Wissenschaftspublizist, Editor und Autor in Bad Münstereifel. 2011 erschien als bisher letzte Buchveröffentlichung HELDENTOD. Kurze Texte aus Langen Jahren. Netzarchiv des Autors eingreifendes-denken
 

Georg Fülberths letztes Buch: Politik - Geschichte - Kapitalistik - Lebensgeschichten

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