JUSTIZ UND PSYCHOLOGIE: Breivik muss zur Verantwortung gezogen werden

von Caroline Fetscher

77 Menschen hat der Norweger Anders Behring Breivik umgebracht. Ein erstes Gutachten stufte ihn als unzurechnungsfähig ein. Das Gericht fordert eine zweite Untersuchung. Foto: dpa

Ein Gutachten hält den Täter von Oslo für krank. Er sollte aber zur Verantwortung gezogen werden: Ihm war klar, dass sein Verhalten strafbar war.

Als Erika Mann im Juni 1946 aus Europa an den Vater im kalifornischen Exil schreibt, empört sie sich, wieder einmal, über „die Kranken“. Sie wusste, dass Thomas Mann versteht, wen sie meint: die Mehrheit der Deutschen in ihrem Wahn, irre Kranke. Zweifellos war die Pathologie der Besiegten unübersehbar. Für „Herrenmenschen“ hatten sie sich gehalten, für berechtigt, andere Menschen anhand konstruierter Kriterien auszulöschen. Berauscht vom selbstgebrauten Cocktail aus Größenwahn, Rassenwahn und Xenophobie hatten „die Kranken“ Massenmorde geplant, organisiert, begründet und begangen. Zugleich, davon war auch Erika Mann überzeugt, die als Reporterin von den Nürnberger Prozessen berichtete, waren NS-Täter für ihre Taten verantwortlich und schuldig zu sprechen.

Wann ist einer schuldig, wann ist er tatsächlich zu krank, um schuldfähig zu sein? Diese Frage wird gerade in Norwegen neu aufgerollt. Dort hatten psychiatrische Gutachter Ende 2011 den Massenmörder Anders Behring Breivik für unzurechnungsfähig, „psychotisch“, „paranoid schizophren“, erklärt, und damit Psychiatrie statt Haft verordnet. Jetzt soll der Täter ein zweites Mal begutachtet werden. Zweifel am ersten Gutachten waren zu massiv und hatten sogar Norwegens tolerante Öffentlichkeit verstört. Mit einem Gemisch aus Größenwahn, Rassenwahn und Xenophobie hatte der Täter vom Sommer 2011 sein Massaker an sozialdemokratischen Jugendlichen auf einer Ferieninsel und im Zentrum von Oslo begründet.

 

Breivik, 32 Jahre alt, hat seine Taten auf einer ideologischen Folie geplant, organisiert, begründet und begangen. 77 Zivilisten starben, weil einer sich für berechtigt hielt, ihnen einen Privatkrieg zu erklären. Doch der entstand nicht im luftleeren Raum. In einem „Manifest“ dockte Breivik an zahlreiche Zeitströmungen an, kaum weniger schlüssig als Ideologien, die ganze Systeme durchzogen, für die Namen wie Hitler, Stalin oder Pol Pot stehen, hatte „ABB“, wie er in den Gutachten abgekürzt wird, sich auf ein rassistisch radikalisiertes Umfeld bezogen. Seine Hetzschrift beschuldigte alles, was nationalistischem „Norwegertum“ im Wege stand, von der Studenten- über die Frauenbewegung bis Immigranten und Regierung. Ähnlich gesonnenen Rechtsradikalen empfahl er geschickte Strategien im Umgang mit Widersachern und beschwor sie, denen keinen Glauben zu schenken, die ihn für verrückt erklären würden.

Geschickt auch – das jedenfalls könnte man vermuten – gab sich der geständige Häftling den Gutachtern gegenüber dann als Mitglied einer fiktiven, weltweiten Verschwörung aus und erfand sympathisierende Gruppen, von denen die Polizei keine Spur entdeckt hat. Aha, lautete die Diagnose, ein Wahnsystem habe von diesem Menschen Besitz ergriffen, es bleibe kein Raum für die Strafjustiz. Dagegen, wenden nun andere Fachleute ein, spräche, neben der Stringenz der Hetzschrift von Breivik, einiges. Nicht nur die sorgfältig geheim gehaltene Planung, also hohe Fähigkeit zur Impulskontrolle, sondern auch die rationale Art der Durchführung seiner Taten.

Nach den Kriterien des ersten Gutachtens hätten die Alliierten womöglich für einen Großteil der deutschen Nachkriegsgesellschaft tausende Irrenhäuser einrichten können. Obsolet gewesen wäre der Appell an Verantwortung und Schuldeinsicht, aufgehoben der Subjektstatus der Individuen, den sie brauchten, um eine veränderte Gesellschaft zu gestalten. Zu Recht wies Sigmund Freud auf die „Psychopathologie des Alltagslebens“ hin und machte deutlich, dass irrationale, unbewusste Anteile der Psyche den Alltag aller Menschen mitbestimmen. Bis zu einem gewissen Grad sind wir alle psychisch auffällig.

Richtig und falsch wird damit jedoch keineswegs abgeschafft. Begeht ein Individuum im Rechtsstaat einen Bankraub oder den Missbrauch eines Kindes, versucht es nicht nur, sich vor sich selber zu legitimieren („Ich brauchte das Geld“, „Der Junge wollte das selber“). Das Subjekt weiß aber, dass es verboten agiert. Anders Breivik war bewusst, dass er massive Straftaten vorhatte, als er im Verborgenen plante. Ihm war klar, dass sein Verhalten geächtet und strafbar war, genauso wie es den rassistischen Serientätern der „Zwickauer Zelle“ klar war, dass ihre Taten juristisch massiv zu ahnden sind.

Rassismus und Antisemitismus verdanken sich pervertiertem Denken, und Pathologisierung allein reicht als Reaktion nicht aus, soll die Gesellschaft ihrer Verantwortung gerecht und der Täter zur Verantwortung gezogen werden. Es ist zu hoffen, dass die erneute Prüfung des norwegischen Falles diesem Maßstab gerecht wird.

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