Jugend ohne Lebenshunger

Moskau. Es ist ein verschlafenes Nest nur ein paar Kilometer von Moskau weg. Lobnja: rund 70.000 Einwohner, Dutzende von grauen Plattenbauten, ein paar Lernzentren für Wirtschaft und Politik, eine Keramikfabrik und eine für Porzellan. 14 Mal am Tag hält der Pendlerzug aus der Hauptstadt. Hier haben sie gelebt, sind zusammen in eine Klasse gegangen. Lisa und Nastja, beide 14 Jahre alt. Vor wenigen Tagen stiegen sie zusammen aufs Dach eines 16-stöckigen Hauses, nahmen sich an die Hand - und sprangen hinunter.

Seitdem ist kaum ein Tag vergangen, an dem sich nicht irgendwo in Russland ein Jugendlicher das Leben nimmt. Ein Zwölfjähriger erhängte sich in Sibirien, eine 15-jährige Moskauerin sprang aus dem Fenster im 23. Stock, und in Nischni Tagil am Ural brachte sich ein Elfjähriger um. In weniger als zwei Wochen begingen 17 Jugendliche Suizid. Die russische Regierung spricht von einer "Staatstragödie" und bemüht sich nun um Präventionspläne. "Wenn wir das Problem nicht an der Wurzel packen, verlieren wir eine ganze Generation", sagte Pawel Astachow, Kinderschutzbeauftragter des Kreml.

Russland hält einen traurigen Rekord. Nirgendwo in Europa ist die Selbstmordrate unter Jugendlichen bis 19 Jahre so hoch wie im größten Flächenstaat der Erde. Etwa 2000 Teenager töten sich hier jedes Jahr selbst, 4000 versuchen es. "Das ist eine gigantische Zahl", sagt Boris Poloschij, Abteilungsleiter des staatlichen Forschungszentrums für soziale und Gerichtspsychiatrie in Moskau.

Ein zu dünnes soziales Netz
Laut einem im Februar veröffentlichten Unicef-Bericht leiden 20 Prozent der russischen Jugendlichen an ernsthaften Depressionen. Als Ursache wird dabei ein ganzes Bündel unterschiedlichster Probleme identifiziert: Perspektivlosigkeit, Prüfungsstress, Mobbing im Internet, zerrüttete Familien, Drogenkonsum oder das zu dünn geknüpfte soziale Netz. Auch der lange und unwirtliche Winter gilt als nicht zu vernachlässigende Größe.

Von diesen Faktoren existieren viele natürlich auch in anderen Ländern, doch kaum wo scheinen sie so stark durchzuschlagen wie in Russland. Mit fünf Prozent liegt die Quote der an Depressionen leidenden Jugendlichen in den westlichen Ländern bei einem Viertel des russischen Wertes. Noch viel größer ist die Schieflage bei den tatsächlich begangenen Selbstmorden. Im einwohnermäßig knapp halb so großen Deutschland sterben etwa 300 Teenager jährlich durch die eigene Hand - ein Sechstel der russischen Quote.

"Wir beobachten das Problem seit zehn Jahren", sagt der Psychiater Poloschij. "Die Grausamkeiten in der Eltern-Kind-Beziehung nehmen von Jahr zu Jahr zu." Viele Eltern überließen Erziehungsaufgaben den Schulen, die Schulen den Eltern. "Am Ende kümmert sich niemand um die Sorgen ihrer Schützlinge."

Kinder, so sind sich Experten einig, spielen oft mit dem Gedanken, sich selbst zu töten - nach dem Motto: "Wenn ich nicht mehr da bin, werdet ihr um mich weinen." Viele betrachteten das als Spiel - und unterschätzen den Ernst der Sache. Schon allein deshalb sollte jeder den unbekümmert klingenden Satz eines Kindes "Dann töte ich mich eben" sehr ernst nehmen, raten Psychologen. Nicht nur russische.

Doch vor allem an russischen Schulen mangelt es an Hilfen. Lediglich jede dritte Einrichtung hat einen Schulpsychologen. Telefonseelsorge und Anlaufstellen außerhalb psychiatrischer Institute gibt es kaum, schon gar nicht auf dem Land. Doch selbst wenn: Psychologen haben in Russland einen schlechten Ruf. Um Probleme wollen sich daher viele lieber selbst kümmern und scheuen so den Besuch in einer Beratungsstelle. Der Staat will nun reagieren - mit mehr Schulpsychologen, der Einführung des Faches Psychologie in den Schulen und Beratungsprogrammen für Schwangere. Bisher aber bestätigen die Behörden aber nur weitere Fälle von Jugendsuiziden und versuchen, sie aufzuklären.

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