Brauchen wir ein Anti-Stress-Gesetz?
Möglicherweise wird vieles, was im Zusammenhang mit dem Anti-Stress-Gesetz diskutiert wird, bereits vom Arbeitsschutzgesetz abgedeckt. Es verpflichtet ja den Arbeitgeber, Schwachstellen in der Arbeitsorganisation zu analysieren und Maßnahmen dagegen zu ergreifen und zu dokumentieren. Da werden explizit die psychischen Belastungen genannt. Von daher ist die Frage: Inwieweit würde ein Anti-Stress-Gesetz über das bestehende Arbeitsschutzgesetz hinausgehen? Solange diese Frage nicht geklärt ist, kann ich nicht sagen, ob ein neues Gesetz nützlich wäre.
Was könnte man sich denn an konkreten Empfehlungen in einem Anti-Stress-Gesetz vorstellen?
Denkbar sind etwa Reglungen zur Erreichbarkeit von Arbeitnehmern für ihren Arbeitgeber in der Freizeit. Vor dem Hintergrund aktueller Forschungsergebnisse zur Erholung von der Arbeit halte ich derartige Regeln auch für sinnvoll. Demnach ist wichtig, dass Arbeitnehmer in der Freizeit abschalten können. Sie sollen sich nicht mehr mit dem Thema der Arbeit beschäftigen müssen. Sie sollen zum einen in der Freizeit nicht mehr aktiv arbeiten müssen, aber auch gedanklich Distanz haben. Wer ständig in Rufbereitschaft ist, kann nicht abschalten.
Halten Sie es für sinnvoll, wenn Unternehmen Dienstmails nach Dienstschluss nicht mehr versenden?
Einerseits ist das sinnvoll. Es signalisiert, dass das Unternehmen die Grenzen respektiert und akzeptiert, dass der Mitarbeiter nicht rund um die Uhr erreichbar ist. Nur: Bei VW gilt diese Regel nur für die Tarifbeschäftigten. Die Führungskräfte aber, die ja am häufigsten in ihrer Freizeit von der Arbeit eingeholt werden, betrifft diese Regelung gar nicht. Sie werden also gar nicht geschützt.
Ist es nicht naiv zu meinen, dass Führungskräfte am Wochenende komplett unerreichbar sein sollten?
Da kann ich mir kein Urteil erlauben. Es hängt von den innerbetrieblichen Abläufen ab. Es hängt auch davon ab, ob das Unternehmen Geschäfte in anderen Zeitzonen tätigt und daher das Management auch zu ungewöhnlichen Zeiten erreichbar sein muss.
Was hält die Arbeitspsychologie vom Homeoffice? Entlastet es, oder macht es dem Mitarbeiter nur noch mehr Stress?
Homeoffice an sich ist ein guter Ansatz zur Flexibilisierung der Arbeitszeit. Es reduziert etwa die Zeiten des Pendelns. Andererseits muss klar dokumentiert werden, was ist zu Hause Arbeitszeit, was ist Freizeit. Freizeit und Arbeitszeit dürfen nicht ineinander verschwimmen.
Wie definieren Sie Stress?
Stress ist ein unangenehm erlebter Spannungszustand. Er kann sich aus mehreren Quellen speisen. Sei es, dass man unter Hochdruck arbeiten muss und keine Zeit hat, Pausen zu machen. Sei es, dass man in gewerblichen Tätigkeiten unangenehme Körperhaltungen einnehmen muss, um die Maschine zu bedienen. Oder, dass man ständig die gleichen Arm- und Handbewegungen machen muss. Auch überlange Arbeitszeiten können dazu führen, dass man diesen unangenehmen Spannungszustand erlebt. Daher ist eine klare Arbeitszeitregelung notwendig. Im Hinblick auf die Gestaltung der Arbeit muss klar sein, dass sie einerseits ausführbar, aber auch bewältigbar ist. Menschen haben ihre Grenzen körperlicher, aber auch geistiger Art. Sie können eben nicht rund um die Uhr mit 100 Prozent zur Verfügung stehen.
Welchen psychologischen Einfluss hat zu viel Stress auf die Arbeitskraft?
Das ist für Arbeitgeber interessant: Arbeitnehmer, die ständig unter Stress stehen, vollziehen häufig die innere Kündigung. Sie resignieren, machen nur noch Dienst nach Vorschrift, sind nicht mehr bereit, sich anzustrengen.